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Corona im Land der Freiheit

Das Beispiel USA zeigt, dass Impfmuffel nicht allein mit Argumenten zu überzeugen sind. Lehren aus dem Mutterland des Individualismus beschreibt Thomas Spang.

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© Mary Altaffer/AP/dpa, SZ

Etwa 93 Millionen US-Amerikaner, die Anspruch auf eine Impfung haben, ziehen es bislang vor, eine Ansteckung mit dem potenziell tödlichen Coronavirus zu riskieren. Ginge es hier um eine Entscheidung für oder gegen eine Chemotherapie, wäre dagegen nichts einzuwenden. Freie Menschen müssen das Recht haben, individuelle Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie ihnen am Ende schaden.

Die Weigerung, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, fällt jedoch in eine andere Kategorie. Diese Einsicht lässt sich gerade am Beispiel der USA besonders gut beobachten, wo die Freiheit des Einzelnen schon immer einen besonderen Stellenwert hatte.

Ein passenderer Vergleich wäre der eines Betrunkenen, der sich im Vollrausch ans Steuer setzt und damit das Leben anderer gefährdet. Das hat wenig mit Freiheit zu tun, sondern ist mit einem Wort gesagt: rücksichtslos. Selbst wenn eine Mehrheit das Richtige tut – 70 Prozent der über 18-Jährigen in den USA sind mindestens einmal geimpft –, kann die verbleibende Minderheit mit ihrer Weigerung nicht nur die eigene Gesundheit, sondern das Gemeinwohl aller riskieren. Auch in Deutschland berufen sich Impfgegner gerne auf das große Wort „Freiheit“.

US-Präsident Joe Biden sagte dieser Tage: „Ich habe gelernt, in der Schule und von meinen Eltern, dass Freiheit auch Verantwortung mit sich bringt.“ Damit bringt der er das traditionelle amerikanische Verständnis von Freiheit gut auf den Punkt.

Joe Biden, Präsident der USA, versucht die Amerikaner zur Impfung zu bewegen.
Joe Biden, Präsident der USA, versucht die Amerikaner zur Impfung zu bewegen. © Susan Walsh/AP/dpa

Sein Vorgänger Donald Trump hat seinen Anhängern dagegen einen vulgären, egoistischen Begriff von Freiheit eingeimpft. Nun dämmert in den USA die Erkenntnis, dass die Politisierung des Virus so gefährlich ist wie dieser selbst. Der ehemalige Gesundheitsminister Alex Azar, der unter Trump die rasante Entwicklung der Impfstoffe mit der „Operation Warp Speed“ aufgegleist hatte, drängt die impfunwilligen Anhänger des früheren Präsidenten dazu, ihre Vorbehalte aufzugeben. Es sei eine böse Ironie, klagte Azar in der New York Times, dass eine der größten Errungenschaften der Trump-Regierung von deren enttäuschten Wählern abgelehnt werde, basierend auf Verschwörungstheorien, Desinformationen oder politischem Groll. „Das Coronavirus“ so Azar, „ist unparteiisch.“

Das gilt auch für die Wissenschaft, die zu der rasanten Entwicklung hocheffektiver Impfstoffe geführt hat. Wer das Gegenteil behauptet, bewegt sich auf einer Stufe mit jenem Selfmade-Astronauten, der im Februar ums Leben kam, als er mit dem Start seiner selbst gebauten Rakete beweisen wollte, dass die Erde flach ist. Das Äquivalent dazu sind Covid-Leugner, die Witwen und Waisen zurücklassen oder an der Lungenmaschine die Erfahrung machen, dass diese Infektion keine normale Grippe ist.

Längst nimmt in den USA die Geduld mit der Minderheit ab, die den vielen die Rückkehr zu einem normalen Leben in Freiheit verwehrt. In New York lief das Fass über. Dort gilt ab Mitte August die Pflicht, für den Besuch eines Restaurants, Kinos, Stadions oder Theaters einen Impfnachweis zu führen. Wer nicht geimpft ist, muss draußen bleiben.

So geht Freiheit auf Amerikanisch. Die Bundesbeschäftigten und Militärs müssen mit Nachteilen und Unannehmlichkeiten am Arbeitsplatz rechnen, wenn sie ihre Freiheit zulasten anderer ausleben wollen. Studierende werden vielerorts vom Campus verbannt. Mitarbeiter von privaten Unternehmen wie die 100.000 Microsoft-Beschäftigten riskieren mit einer Impfverweigerung ihren Job. Das ist keine Diktatur, sondern im Gegenteil nach typisch amerikanischer Sicht die freie Entscheidung der Unternehmen.

Wie andere Gefährder müssen die Impfunwilligen mit den Konsequenzen ihres Verhaltens leben. Experten in den USA betonen, dass solche Hürden unterhalb einer gesetzlichen Impfpflicht zum Einstellungswandel beitragen können. Dazu gehört auch der leichte Zugang zu Impfungen, etwa bei Sportveranstaltungen, Volksfesten oder in mobilen Impfzentren. Mit dieser erfolgreichen Strategie waren die USA in den ersten Monaten der Impfkampagne zunächst ein Vorbild. Erst in den vergangenen Wochen kam die Impfbereitschaft ins Stocken.

Autos stehen an einer Corona-Teststelle in Orlando/Florida an. In dem Bundesstaat gibt es aktuell immer mehr Krankenhausaufnahmen
Autos stehen an einer Corona-Teststelle in Orlando/Florida an. In dem Bundesstaat gibt es aktuell immer mehr Krankenhausaufnahmen © Paul Hennessy/SOPA via ZUMA/dpa

Präsident Biden setzt jetzt auf beides: Peitsche und Zuckerbrot. So bietet er jedem Neugeimpften eine Belohnung von 100 Dollar an. Das Buch „Nudge“ – zu Deutsch: Schubs –, ist in den USA ein Bestseller. Es beschreibt, wie diese kleinen Stupser oft mehr bewirken als Zwang. Was in den USA Freibier und Burger erledigen, soll die Rostbratwurst in Aue oder Sonneberg bewirken.

Eine weitere Erfahrung aus den USA ist, dass Werbung von Prominenten vor allem dann wirkt, wenn diese aus gesellschaftlichen Gruppen stammen, in denen Vorbehalte bestehen: Populäre Prediger bei den Evangelikalen, Bürgerrechtler bei Schwarzen, die der Regierung aus historischen Gründen nicht über den Weg trauen, oder Fox-Moderatoren, die ihre Zuschauer bitten: Nehmt das Virus ernst!

Aus den USA kann man lernen, dass auch ohne Impfzwang ein Bündel unterschiedlicher Maßnahmen hilft, Freiheit und Verantwortung in Einklang zu bringen. Corona macht keine Unterschiede zwischen Linken und Rechten, Gläubigen und Säkularen, Land und Stadt. Unbesiegt macht der Erreger alle zu Opfern.