Wo der Tod sich stapelt

Der auberginefarbene VW-Bus mit den grau-gerafften Vorhängen und Kennzeichen aus Flöha rollt aus, dann geht der Motor aus. Behutsam ziehen Fahrer und Beifahrer die hölzerne Fracht aus dem Wagen, tragen sie durch ein Holztor. Gemessenen Schrittes, aber zügig. Der nächste Leichenwagen wartet, ein silbergrauer Bus aus Leipzig. Auch diese Bestatter gehen mit dem Sarg direkt in die Halle. Dann rollt ein Mercedes aus Freiberg heran. Kurz darauf stehen drei Busse vor der Tür: Manchmal kommen die Fahrzeuge im Minutentakt.
„So eine dramatische Situation hat das Krematorium in seiner Geschichte noch nicht erlebt“, sagt Gerold Münster. Der 47-Jährige ist Geschäftsführer der Krematorium Döbeln GmbH. Die einzige privat betriebene Einäscherungsanlage Sachsens gehört zur Jakob- Becker-Gruppe, einem Entsorgungskonzern aus Rheinland-Pfalz.

Das Krematorium liegt oberhalb der Stadt am Rand des Talkessels. Vom Parkplatz aus fällt der Blick über den Urnenhain ins Zentrum. Die Feierhalle ist mehr als 80 Jahre alt. Auf einem Wandbild aus der Zeit des Dritten Reiches steht: „Staub wird die Hülle, aber des Geistes edle Tat reift zur Unsterblichkeit“. Der Raum mit den hohen Fenstern und den dunklen Deckenbalken fasst 90 Trauergäste.
Normalerweise. Wo sonst Angehörige Abschied nehmen, stehen jetzt Särge. 60 an der Zahl. Auf vielen steht mit Kreide geschrieben „Covid-19“, an anderen klebt ein rotgerahmtes Schild: „Vorsicht, infektiöse Leiche“. Auch die Gänge hinter der Feierhalle sind voller Särge. Den Gängen schließt sich der Kühlraum an. Er hat Platz für 80 Särge, derzeit stapeln sich hier 160 Stück.
"Wir kommen an Grenzen, die keiner sehen will."
„Wenn wir die Feierhalle nicht nutzen könnten, hätten wir einen Notstand, der nicht auszuhalten wäre“, sagt Münster. Zum Glück sei momentan Winter, so stiegen die Temperaturen in der Halle selten über vier Grad.
„Es gibt Tage, da haben wir hier abends mehr Särge als am Morgen zu Schichtbeginn.“ Manchmal bekämen er und seine Mitarbeiter schon mal abschätzige Bemerkungen zu hören, weil man meinen könnte, sie rieben sich aus unternehmerischer Sicht die Hände. „Wir aber fragen uns, ob das unsere Öfen mitmachen, und ob wir Ende Januar noch genauso arbeiten können wie bisher.“ Münster wird nachdenklich: „Wir kommen im Sachsen schon jetzt an Grenzen, die keiner sehen will.“
Sachsen hat Deutschlands höchste Corona-Sterberate
Nirgends in Deutschland ist die Corona-Sterberate so hoch wie in Sachsen. Auf 100.000 Einwohner kommen derzeit 103 Todesfälle. Zum Vergleich: In Thüringen sind es 66 Fälle, in Brandenburg 60, in Sachsen-Anhalt 41 und in Mecklenburg-Vorpommern 15. Das Statistische Bundesamt hat eine „besonders auffällige“ Entwicklung in Sachsen festgestellt. In der zweiten Dezemberwoche seien hier nach vorläufigen Zahlen 88 Prozent mehr Todesfälle gemeldet worden als im Schnitt der vergangenen vier Jahre. Bezogen auf die gesamte Bundesrepublik betrug die Übersterblichkeit 23 Prozent. Bereits im November waren den Statistikern zufolge erstmals seit 1974 mehr als 80.000 Menschen in Deutschland gestorben.

Diese Übersterblichkeit resultiert nach einer am Donnerstag veröffentlichten Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo in Dresden vor allem „aus einer erhöhten Zahl an Todesfällen in der Altersgruppe 80 plus“. Offenbar sei es nicht gelungen, „diese Gruppe besonders anfälliger Menschen in ausreichendem Umfang zu schützen“, bilanziert Ifo-Professor Joachim Ragnitz. Er betont, dass der Anteil der Über-80-Jährigen in der Bevölkerung ohnehin steigt. Daher sei rund die Hälfte der derzeit ausgewiesenen Zahl an zusätzlichen Todesfällen auf diesen „Altersstruktureffekt“ zurückzuführen. Corona sei für die andere Hälfte verantwortlich.
Außer Klinik- und Pflegeheimpersonal sind es vor allem Bestatter, Kremationstechniker und Friedhofsangestellte, die die Folgen der Pandemie direkt vor Augen haben. „Wir arbeiten die meiste Zeit im Verborgenen“, sagt Firmenchef Münster in Döbeln. Nun bringe Corona die Branche ins Licht der Öffentlichkeit. „Normalerweise ignorieren viele Menschen ja Themen wie Tod oder auch Pflegebedürftigkeit.“

Doch der Tod ist in Sachsen nicht mehr zu übersehen. Die Standesämter haben zunehmend Probleme, wegen der vielen Toten die notwendigen Unterlagen rechtzeitig auszustellen. Bevor ein Leichnam eingeäschert werden kann, müssen 48 Stunden abgewartet werden. In diesen zwei Tagen muss die Sterbeurkunde organisiert werden und beim Arzt, der die Leichenschau durchgeführt hat, die Todesbescheinigung. Erst wenn diese Dokumente vorliegen, macht ein Amtsarzt die zweite und letzte Leichenschau. In Sachsen ist sie vor jeder Feuerbestattung vorgeschrieben, um eine unnatürliche Todesursache zweifelsfrei auszuschließen.
"Das hier lässt sich nicht im Homeoffice machen"
In Döbeln sei man neun Tage im Rückstand, sagt Münsters Mitarbeiterin Ariane Romstedt. Sie leitet das Team des Krematoriums, das aus drei Verwaltungsangestellten, drei Krematoren und zwei Gärtnern für den betriebseigenen Urnenhain besteht.
Die 42-Jährige steht vor einem der beiden Öfen. Gleich soll ein neuer Sarg hineingeschoben werden. Es braucht Muskelkraft, um ihn in die Ofenkammer zu schieben. Zwischen den rotglühenden Schamottesteinen züngeln Flammen. Bei rund 1.000 Grad ist die Holzhülle nach fünf bis zehn Minuten weg. Pro Sarg benötigt der Ofen rund 90 Minuten. Danach schiebt ein Techniker Asche und Knochenreste mit einem meterlangen Kratzer in den Aschekasten, nimmt ihn hinaus und steckt einen neuen wieder hinein.
„Das hier lässt sich nicht aus dem Homeoffice machen. Die Frage ist, wie lange wir durchhalten“, sagt Romstedt. Ihre Mitarbeiter hätten das Gefühl, sie könnten ihr Tagewerk nicht mehr beenden, weil immer neue Särge kommen. „Das ist schwer zu ertragen.“ Viele andere Berufstätige hätten trotz Corona Weihnachten feiern können, ihre Leute seien an den Feiertagen und Sonntagen im Einsatz gewesen.

Im Krematorium in Meißen ist das nicht anders. Jörg Schaldach, der Geschäftsführer des Städtischen Bestattungswesens, berichtet, seine 20 Mitarbeiter arbeiteten von Montag bis Sonntag von 0 bis 24 Uhr. Er hat für den Dezember 1.375 Einäscherungen registriert, „100 Prozent mehr als üblich“.
Sogar mehr als eine Dopplung im Vergleich zum Vorjahres-Dezember verzeichnet das Krematorium von Reichenbach im Vogtland. 285 Einäscherungen statt 130, sagt die Pressesprecherin der Stadt. Seit dieser Woche arbeite man im Dreischichtbetrieb. Im benachbarten Plauen gab es im Dezember 290 Einäscherungen. Nach Angaben der Stadtverwaltung sind das 130 mehr als im Dezember-Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre.
Im Jahr 1906 gegründeten und damit ältesten Krematorium Sachsens in Chemnitz seien allein in der ersten Dezemberhälfte 460 Leichen verbrannt worden, doppelt so viele wie üblich, sagt Stadtsprecher Matthias Nowak. Mit derzeit täglich rund 40 Einäscherungen sei „alles ausgereizt“.
Man arbeite „am Anschlag“. Für die Kühlung der Leichen habe man weitere Kapazitäten in einer Lagerhalle außerhalb des Krematorium-Areals geschaffen. In Zwickau sagt Friedhofamtschef Jörg Voigtsberger, die mehr als 100 Kühlplätze seien so gut wie belegt. Mehrere Mitarbeiter aus anderen Bereichen des Garten- und Friedhofsamtes seien im Einsatz, um Verstorbene aus Krankenhäusern, Pflegeheimen und von daheim abzuholen.

Im Konferenzraum in Döbeln hat Gerold Münster eine Tabelle vor sich ausgebreitet. An seinen Zahlen lässt sich die Pandemie in Sachsen ziemlich genau nachzeichnen: die erste Welle, die eher vorüberschwappte, die Ebbe im Sommer, der Anstieg nach den Herbstferien und nun, in der kalten Jahreszeit, eine Art Tsunami. „Mir braucht keiner kommen und die Situation verharmlosen“, sagt er.
„Im Schnitt der Dezembermonate der letzten fünf Jahre haben wir 2020 mindestens 50 Prozent mehr Einäscherungen gehabt.“ Wie viele der Menschen an oder mit Corona gestorben sind, kann Münster nicht beziffern. Man zähle das nicht. Überhaupt, was sollen solche Zahlen aussagen, wenn die Verstorbenen aus vielen Landkreisen angeliefert würden. Aus Mittelsachsen, dem Erzgebirge, aus Leipzig oder aus Dresden.
Vor Weihnachten sei es so richtig losgegangen. „Ich habe gedacht, wir kommen jetzt an einen Punkt, an dem nichts mehr geht“, sagt Münster. Ein Mitarbeiter organisierte einen Sattelauflieger mit Kühlaggregat, in dem vorher Lebensmittel transportiert worden waren. „Der sollte uns über die Feiertage als Puffer dienen.“ 40 zusätzliche Plätze. Doch am 23. Dezember, als der Anhänger hingestellt wurde, sei er sofort komplett mit Särgen gefüllt worden.

Darunter waren auch welche aus Dresden. Ausgerechnet während der zweiten Welle war im Krematorium der Landeshauptstadt einer von vier Öfen ausgefallen. Über Weihnachten hatte man dort begonnen, die Lagerplätze für die Toten auf 700 zu verdoppeln.
Das reichte dennoch nicht. Die zuständige Dresdner Bürgermeisterin Eva Jähnigen sagt, im letzten Monat des vorigen Jahres habe das Standesamt etwa 1.000 Todesfälle beurkundet, „ungefähr doppelt so viele wie im Durchschnitt der Dezember-Monate in den Vorjahren“. Nahezu täglich würden mehr Verstorbene gebracht, „als wir kremieren können“. Seit Anfang Dezember seien etwa 600 Tote anderorts eingeäschert worden, unter anderem in Sachsen-Anhalt.
Ausweichfahrten nach Halle und Altenburg
Dort, nur zwei Kilometer hinter dem Schkeuditzer Kreuz an der A 14, liegt das privat betriebene „Flamarium“. Das sachsen-anhaltinische Beerdigungsrecht sieht die Vorlage einer standesamtlichen Sterbeurkunde nicht zwingend vor, das verkürzt die Lagerzeit. Seit Weihnachten ist aber auch das Flamarium keine Alternative mehr. „Wir sind definitiv voll“, sagt Geschäftsführer Frank Pasic. „Wir sagen alle Anfragen ab.“
Einen weiteren Partner fand Dresden in Thüringen. In der Nähe des früheren Flugplatzes in Altenburg-Nobitz ist im vorigen Herbst ein privat geführtes Krematorium in Betrieb gegangen. Nach Firmenangaben handelt es sich um „eine der modernsten Feuerbestattungsanlagen Europas“. Ein laut Bürgermeisterin Jähnigen „überregional agierendes Bestattungsunternehmen“ organisierte eine Art Shuttle-Dienst mit drei Sprintern. Jeder von ihnen fasst vier Särge, in Kolonne geht es dann gen Thüringen. Bis Ende Dezember waren so rund 100 Tote nach Nobitz gebracht worden.

In Döbeln werden Särge inzwischen nur noch nach Voranmeldung und mit vollständigen Dokumenten angenommen. Dennoch überlegen Geschäftsführer Münster und seine Mitarbeiterin Romstedt, ob sie noch einen Behälter in Größe ein Überseecontainers anschaffen, um ihn bei den derzeitigen Temperaturen ebenfalls als Sarglager zu nutzen. „Ich wüsste nicht, wie wir das ohne zusätzliche Kühlräume alles schaffen“, sagt Ariane Romstedt.
Ihre Kollegen in Zittau haben das gleiche Problem. Weil dort die Kühlzellen nicht mehr ausreichen, werden Verstorbene derzeit in einer Halle am Hochwasserstützpunkt zwischengelagert. Stefan Winkler, der Chef des Bestattungswesen in der Städtischen Dienstleistungsgesellschaft, sagt, seine Mitarbeiter verzichteten auf Urlaub, machten Überstunden, arbeiteten auch an den Wochenenden. „Mehr ist nicht machbar.“

Am Limit ist auch das städtische Krematorium in Görlitz. Leiterin Evelin Mühle sagt, man nutze derzeit eine zweite kleine Kühlhalle in einem anderen Objekt. Im Dezember seien 332 Leichen eingeäschert worden. Der Dezember-Durchschnitt liege sonst bei 121. „Ich hoffe auf Besinnung, was die Corona-Zweifler angeht“, sagt Mühle.
Der Landkreis Görlitz gehört zu den am schlimmsten betroffenen Regionen Deutschlands. Dort sind bislang 551 Menschen an oder mit einer Corona-Infektion gestorben. Zum Vergleich: Norwegen hat 472 Tote zu beklagen, obwohl das skandinavische Land 21-mal mehr Einwohner hat als der Landkreis entlang der Neiße. Von den 401 deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten liegt Görlitz mit 218 Todesfällen auf 100.000 Einwohner auf Rang zwei. Nur der Landkreis Tirschenreuth in der Oberpfalz hat eine höhere Corona-Sterberate.

Von den zehn Krematorien in Sachsen vermeldet einzig das Leipziger eine eher moderate Lage. Die Fallzahlen seien derzeit zwar etwas höher, „jedoch nicht im bedenklichen Bereich“, teilt ein Sprecher der Stadt auf Anfrage mit. „Es sind ausreichend Kapazitäten vorhanden.“ In den Kühlräumen sei sogar noch Platz, „um eventuell zusätzliche Bedarfe aus den Krankenhäusern abzudecken“.
Wie lang das mit den zusätzlichen Lagerplätzen in der Feierhalle, den Gängen und dem Überseecontainer in Döbeln noch gut geht, hängt indes auch vom Wetter ab. Mit einer Entspannung der Lage rechnet der Geschäftsführer nicht vor Mitte Februar. „Beim Kühlauflieger im Hof haben wir erst gedacht, der steht vielleicht vier Wochen da, aber keiner kann jetzt mehr eine vernünftige Prognose wagen.“ In ein paar Wochen werde es wärmer. „Was, wenn dann immer noch so viele Särge ankommen?“ Gerold Münster wischt den Gedanken beiseite.