Wohin mit der freien Corona-Zeit?

Nervös im Stau stehen, weil der nächste Termin drückt – das gehört derzeit für die meisten der Vergangenheit an. Genauso wie abends ins Restaurant oder Kino zu gehen, seine Freizeit mit Freunden, Familie oder im Fitnessstudio zu verbringen oder sich Ausstellungen anzuschauen. Die Menschen müssten durch Corona endlich mehr Zeit haben – ein Idealzustand, nach dem sie sich immer gesehnt haben. Doch dem ist nicht so, sagt Zeitforscherin Elke Großer.
Frau Großer, gibt es Erhebungen, was die Menschen jetzt mit all der Zeit machen, die sie früher mehr auf Arbeit oder mit Freizeitaktivitäten verbracht haben?
Ja, die gibt es. Aber ich sehe es etwas differenzierter. Am Anfang der Pandemie im März 2020 wurde von einer großen Entschleunigung gesprochen, von der vielen freien Zeit, die man zur Verfügung hätte. Auf einmal hätten die Menschen keine Hetze, keine Eile mehr, weil, wie jetzt auch wieder, viel vom Leben da draußen wegfällt. Wir hätten jetzt den Zeitwohlstand ohne Stress, den wir uns immer ersehnt haben. Das hörte sich erst einmal sehr gut an. Aber das ist nicht so.
Warum?
Weil dieser Zeitwohlstand erstens sehr ungleich verteilt ist. Zweitens kann ihn aus den unterschiedlichsten Gründen kaum einer genießen. Viele erleben ihn als aufgezwungen, als übergestülpt. Bei vielen fällt das Gehalt geringer aus, Einnahmen fallen zum Teil komplett weg. Das ist eine große Belastung. Viele andere empfinden nach einer gewissen Zeit Langeweile – aber wir haben es nicht mehr gelernt, mit ihr umzugehen und sie auszuhalten. Das kann auch zu psychischen Auswirkungen führen.
Wer profitiert denn nicht von diesem Zeitwohlstand?
Zum Beispiel Berufsgruppen wie Ärzte oder Pfleger, die rund um die Uhr beschäftigt sind. Gerade Familien empfinden diese Zeit als belastend. Eltern im Homeoffice, die neben der Arbeit mit Kinderbetreuung und Hausarbeit zu tun haben. Davon sind hauptsächlich Frauen betroffen. Das hat das Nationale Bildungspanel festgestellt.
Was machen diejenigen, die mehr freie Zeit haben, damit?
Eine Untersuchung an der TU Berlin im ersten Lockdown zeigt, dass die Menschenmehr schlafen und später aufstehen. Das haben zum Beispiel die Wasserzweckverbände von Berlin und Hamburg daran gemerkt, dass der Wasserverbrauch nicht mehr früh um sechs Uhr stark ansteigt, sondern erst um neun. Generell nehmen sich die Leute mehr Zeit für Auszeiten und zum Ausruhen, aber durch die Beschränkungen gibt es logischerweise weniger reale Kontakte zu Familie und Freunden.
Wird mehr telefoniert?
Ja, Gesprächsanzahl und Dauer der Gespräche steigen ebenfalls an. Natürlich wird auch mehr Zeit in sozialen Medien verbracht. Gerade die Jugendlichen sitzen viel länger vor dem Computer. Es wird viel mehr gestreamt, Plattformen wie Microsoft Teams oder Zoom auch vermehrt in der Freizeit für private Kontakte genutzt. Viele machen zu Hause Sport, andere misten ihre Wohnung aus und verrichten Arbeiten, die sonst liegen geblieben sind.
Was ist mit Sprachenlernen oder neuen Hobbys?
Etwa jeder Vierte nutzt die Zeit dafür. Das zeigt der aktuelle Freizeit-Monitor.
Wie kommt der Mensch damit klar, auf einmal so viel freie Zeit zu haben, wo er vor dem Lockdown doch immer über Zeitnot und Stress geklagt hat?
Die Zeitorganisation im Alltag verläuft ganz anders als vor der Pandemie. Damit ändert sich auch das Zeitgefühl. Der Tagesrhythmus im Alltag, der von außen durch Arbeits- oder Schulzeiten vorgegeben wird, der fehlt. Wir sind auf uns angewiesen, die Zeit neu zu strukturieren. Klar war es für viele schön, gerade am Anfang auf dem Sofa vor dem Fernseher abzuhängen. Aber auf Dauer braucht jeder eine feste Zeitstruktur und Routinen im Alltag.
Was raten Sie?
Wir können unsere Zeit jetzt nach eigenen Bedürfnissen gestalten und einteilen. Strukturen sind wichtig: Regelmäßige Mahlzeiten, von wann bis wann arbeite ich, wann mache ich Pausen, wann gehe ich zum Beispiel mit dem Hund spazieren. Das können wir aus der Pandemie für später lernen. Denn seit 2020 spielen Homeoffice und Arbeitszeit in der Politik und bei den Gewerkschaften wieder eine große Rolle.
Da wird viel über geringere Arbeitszeiten und die Vier-Tage-Woche diskutiert. Das würde vielen Menschen entgegenkommen. Sie wünschen sich, weniger zu arbeiten oder auch berufliche Auszeiten zu nehmen, beispielsweise für die Betreuung von Kindern, die Pflege von Angehörigen oder für Weiterbildungen. Andererseits brauchen wir aber auch etwas Stress.
Warum? Ohne Stress lebt es sich doch viel besser.
Weil er uns aktiviert und stimuliert. Langeweile macht auf Dauer krank. Bei zu wenig Arbeit und Unterforderung kann sie zum Bore-Out-Syndrom führen, das fast die gleichen Symptome wie ein Burn-Out hat. Momentan befinden wir uns in einem Wartemodus. Aber wir warten auf ganz andere Dinge als sonst, als wir darauf gewartet haben, dass der Stau sich auflöst oder die nächste Erholungsphase kommt. Jetzt warten wir auf einen Impftermin gegen Corona, auf das Ende der Pandemie, darauf, dass wir unsere Familien und Freunde treffen. Die Unsicherheit von Zeit, was in Zukunft passieren wird und wie ich sie planen kann, begleitet den Wartemodus.
Was kann das Warten erleichtern?
Das Zeitgefühl ist ganz anders, wenn wir den ganzen Tag weniger zu tun und kaum Erlebnisse haben. Dann empfinden wir, dass die Zeit im Moment viel langsamer vergeht. Im Nachhinein wird diese Zeit aber als sehr schnell fließend erlebt. Das ist das Zeitparadox. Das sagt: Wir sollten für uns selbst zu Hause auch schöne Erlebnisse schaffen, mit dem Partner oder den Kindern. Etwas Tolles essen, schöne Dinge machen, die etwas Besonderes darstellen.
Irgendwann werden wir wieder über Zeitnot klagen. Wie können wir im normalen Alltag besser mit unserer Zeit umgehen?
Wichtig ist, dass wir unsere Zeitkompetenz entwickeln, damit wir sie besser gestalten und im Alltag organisieren. Da ist auch der Bildungsbereich gefragt.
Was stellen Sie sich vor?
Dass Kinder einen Zeitunterricht haben: Was Zeit bedeutet, wie man mit ihr umgeht, dass es auch andere Freizeitgestaltung gibt als den Computer. Und dass man lernt, auf seine eigenen Zeitbedürfnisse zu achten, zum Beispiel auf seinen chronobiologischen Typ. Ich kann früh gut arbeiten, andere können das erst am Nachmittag.
Wenn ich lerne, dass ich abends effektiver arbeite, kann mir keiner mehr erklären, warum ich trotzdem morgens im Büro sein soll.
Ja genau. Das wird für Schulen diskutiert und zum Teil auch ausprobiert, ob man die Schulzeit später beginnen lässt. Zum Teil wird darauf geachtet, dass gerade morgens keine Klausuren oder Tests geschrieben werden, weil sich Jugendliche um acht meist noch im Tiefschlaf befinden.
Elterninitiativen werden aber meist mit dem Argument der getakteten Abläufe im öffentlichen Nahverkehr abgeschmettert.
Gerade in den ländlichen Gegenden ist sowas mit den Fahrtzeiten leider oft nicht zu vereinbaren. Aber es gab ein Projekt dazu in der Kurstadt Bad Kissingen, die Chrono City. Es hat sich damit beschäftigt, wie man eine ganze Stadt an chronobiologische Bedürfnisse anpassen kann.
Was kam dabei heraus?
Sie wollten beispielsweise Krankenhäuser oder Hotels so umgestalten, dass die Lerchen, also die Frühaufsteher, in Zimmern mit Ostfenstern untergebracht werden. Schichtpläne sollten verbessert und die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter gesteigert werden. Aber die Ergebnisse waren nicht so, wie man angenommen hatte. Erstaunlicherweise wollten die Arbeitnehmer das nicht. Auch an Schulen wurden andere Öffnungszeiten ausprobiert, aber die waren oft nicht vereinbar mit den elterlichen Arbeitszeiten.
Also bleibt nichts anderes übrig, als den Freizeitbereich zu optimieren?
Ja. Da müssen wir vor allem schauen, dass wir wieder Langeweile zulassen. Dass es viele schöne Dinge gibt, wie spazieren gehen und nicht nur konsumieren. Das hat auch positive Folgen für Umwelt und Klima. Jetzt, da die Menschen länger und mehr schlafen, haben sie auch wieder entdeckt, dass Schlaf etwas sinnvolles ist. Viele merken jetzt auch verstärkt, wie wichtig reale Sozialkontakte sind, weil Familien und Freunde einfach fehlen. Viele hetzen sonst durch ihre Freizeit. Man kann hoffen, dass wir durch die aktuellen Erfahrungen künftig die schönen Dinge, die uns Zufriedenheit bringen, wieder in Ruhe erleben.
Das Gespräch führte Susanne Plecher.
Über Elke Großer
- Die Zeitforscherin hat erst Informatik, dann Soziologie und Soziale Verhaltenswissenschaften studiert. Sie ist auch psychologische Beraterin.
- Großer ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Sie interessieren vor allem die Fragen, wie sich die Zeitgestaltung im Alltag durch die Digitalisierung ändert und wie der kollektive Umgang mit Zeit ist.
- Seit 2000 ist sie Freiberuflerin und arbeitet u. a. als Mitherausgeberin des Zeitpolitischen Magazin.
- Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in der Mecklenburgischen Seenplatte.
Die Serie "Wege aus der Krise"
Zehn Monate Corona - Lockdown und Kontaktbeschränkung. Eine herausfordernde Zeit für jedes noch so starke Gemüt. In einer neuen Serie geben Experten Hilfestellung, wie es raus geht, aus der Krise. Hier geht es zu allen Serienteilen.