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„Dann müssen sie ihrem Kind eine Insel kaufen“

Die Großschweidnitzer Chefärztin Sabine Hiekisch über Erziehungsfehler, offene Kita-Konzepte und die Politik.

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© SZ-Archiv

Von Anja Beutler

Landkreis. Erzieher und Kindereinrichtungen schlagen Alarm: Immer mehr Kinder zeigen sozial-emotional auffälliges Verhalten (SZ berichtete). Sie können einfache Regeln nicht befolgen, ringen ständig um Aufmerksamkeit, können sich nicht konzentrieren und motivieren. Solche Kinder brauchen mehr Unterstützung durch zusätzliche Erzieher. Die können sie aber derzeit eigentlich nur bekommen, wenn eine fachärztliche Diagnose vorliegt. Die Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Fachkrankenhaus in Großschweidnitz, Dr. Sabine Hiekisch, über die Gründe für diese Entwicklungen und ihre Forderungen an Politik und Gesellschaft:

Mit diesem Bild berichtete die SZ vor wenigen Tagen über zunehmende Sorgen der Kita-Erzieher mit Kindern, die sozial-emotional auffällig sind und viel mehr Betreuung benötigen. Nun ordnet die Chefärztin aus dem Fachkrankenhaus Großschweidnitz die Hintergr
Mit diesem Bild berichtete die SZ vor wenigen Tagen über zunehmende Sorgen der Kita-Erzieher mit Kindern, die sozial-emotional auffällig sind und viel mehr Betreuung benötigen. Nun ordnet die Chefärztin aus dem Fachkrankenhaus Großschweidnitz die Hintergr © dpa pa/bildagentur-online

Frau Hiekisch, jede Generation klagt darüber, dass die Jugend schlecht erzogen sei. Ist es das, was wir beobachten?

Wir sehen schon seit einigen Jahren zunehmend Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten zu uns kommen. In vielen Fällen gehen die Probleme auf Erziehungsdefizite zurück.

Es liegt also an mangelnder Erziehung?

Ich habe das Gefühl, dass die Erziehungskompetenz der Eltern rapide abnimmt. Es fehlt an Basisfertigkeiten. So fällt es vielen Eltern schwer, ein Kind als ein Kind wahrzunehmen und nicht als kleinen Erwachsenen. Kinder muss man hüten, schützen, aber eben auch lenken und leiten. Heute dominiert mehr die partnerschaftliche Erziehung, das Kind wird als gleichberechtigt angesehen und Lenkung und Leitung werden dabei weggelassen.

Das gilt als modernes, antiautoritäres Erziehungsideal. Ist das falsch?

Kinder brauchen Halt, einen Rahmen, sie müssen Verlässlichkeit erfahren. Wenn eine Mutter ihr zweijähriges Kind fragt, was es denn heute Schönes machen wolle, ist das Kind damit auf Dauer überfordert. Was soll es denn da antworten? Durch solche Beliebigkeit wird die Bindung erschwert und es kommt zu Beziehungsstörungen.

Offene, alternative Modelle, in denen die Kinder ihrer Fantasie freien Lauf lassen dürfen, werden doch auch bei Kitas als vorteilhaft beworben?

Ich bin der Ansicht, dass diese offenen Konzepte die Kinder in der Regel überfordern. Sicher, wir hatten vor der Wende auch Ärger mit dem Erziehungskonzept der Kitas. Da kam das Individuelle oft zu kurz. Heute ist aber leider eher das Gegenteil der Fall – da fehlt der Rahmen, die Orientierung, der Halt.

Zuallererst liegt das Problem aber zu Hause, bei den Eltern – haben die Probleme etwas mit Arm und Reich zu tun?

Nein, denn die Probleme treten in allen sozialen Schichten auf. Sicher, in sozial schwächeren Haushalten gibt es zusätzliche Probleme, beispielsweise durch hohen Medienkonsum, Mangelversorgung und fehlende Förderung der Kinder. Aber es gibt auch andere Faktoren: Mich ärgert es beispielsweise furchtbar, wenn ich sehe, dass Mütter ihre Kinder im Sportwagen von sich wegschieben, das Kind also mit dem Gesicht in Fahrtrichtung sitzt, ohne Bezug zur Mutter. Sie und das Kind sehen sich gar nicht, können sich nicht unterhalten, einander etwas zeigen. Und die Mutter sieht schlimmstenfalls noch ständig auf das Handy. Das ist leider vergeudete Zeit! Auch gemeinsame Mahlzeiten werden seltener in den Familien – und so schwinden die Möglichkeiten, miteinander zu reden.

Was sind die Folgen?

Bei Schulanfängern können immer mehr Kinder nicht altersgemäß sprechen. Wer sich aber nicht ausdrücken kann, der fängt eher an zu schlagen, wenn ihm etwas nicht passt. Manche Kinder sind nicht wegen mangelnder Intelligenz noch nicht schulreif. Es fehlt ihnen die soziale Reife, Anstrengungsbereitschaft und Einfühlungsvermögen. Das lernt man in einem Alter ab etwa drei Jahren – vorher ist jedes Kind ein kleines Sonnengestirn für sich.

Spielt es auch eine Rolle, dass Paare später Eltern werden als früher?

Auch das kann eine Rolle spielen. Bei Eltern, die alles erreicht haben und sich nun als Krönung des Lebenswerkes noch ein Kind wünschen, kann die Rolle des Kindes von Anfang an überhöht sein. Das kann dazu führen, dass dem Kind alles abgenommen, jeder Wunsch erfüllt wird und es nicht dazu erzogen wird, sich anzustrengen, um etwas zu erreichen. Noch schlimmer ist es, wenn die Eltern auf die Liebe der Kinder angewiesen sind und alles für Harmonie in der Familie tun, weil die Alltagswelt schon stressig genug ist. Dann geht es nur darum, wozu das Kind gerade Lust hat. Ich sage manchmal Eltern, wenn sie so weitermachen, müssen sie ihrem Kind irgendwann eine einsame Insel kaufen.

Solche Entwicklungen kann ja aber eine Kindereinrichtung nicht beheben ...

Nein. Und ich kann durchaus verstehen, wenn der Staat sagt: Warum soll ich diese Fehler korrigieren? Dennoch geht es oft nicht ohne Unterstützung, wenn soziale Integration gelingen soll. Viele Familien, die Hilfe nötig hätten, erkennen das selbst gar nicht. Eine Diagnose bei uns im Krankenhaus ist ja aber eine freiwillige Sache. Und auch gar nicht in jedem Fall nötig. Auch deshalb halte ich es für eine zu hohe Hürde, dass wir erst eine psychiatrische Fachdiagnose stellen müssen, damit für diese Kinder zusätzliche Unterstützung in den Kindergärten ankommt. Wartezeiten gibt es bei uns natürlich, wenngleich ich nicht bestätigen kann, dass es ein Jahr dauert, bis man einen Termin in der Ambulanz bekommt. Aber für Kinder ist schon ein halbes Jahr viel zu viel Zeit. Leider sind wir an der Grenze unserer Belastbarkeit.

Was wäre eine Lösung?

Ich denke, man sollte den Betreuungsschlüssel in den Kindereinrichtungen verändern. Fachleute sagen, bei Kindern bis drei Jahre sollten auf eine Erzieherin drei Kinder kommen, bei älteren eine Erzieherin für sechs Kinder da sein. Und ich meine dabei ganz reale Personen – keine theoretische Rechnerei nach Stunden, so wie es derzeit der Fall ist. Wenn jetzt zum Teil 17 Kinder und mehr in einer Gruppe betreut werden, ist das für die Kinder eine absolute Reizüberflutung. Mit deutlich kleineren Gruppen ist es möglich, eine Beziehung zu den Kindern aufzubauen. Das ist wichtig, denn die gewünschte frühkindliche Bildung funktioniert nicht ohne Bindung.

Und eine Diagnose wäre überflüssig?

Sicherlich nicht immer. Aber vielleicht kann es gelingen, dass der Befund des Kinderarztes über eine Entwicklungsverzögerung und der ärztlich oder psychologisch festgestellte Förderbedarf ausreicht, um zusätzliche Unterstützung zu bekommen.

Und die Eltern?

Die sollten sich wieder auf ihr Elterngefühl besinnen und reife, abgegrenzte Erwachsene sein. Denn eigentlich muss Erziehung aus dem Bauch kommen.