Merken

Das Geheimnis der Turmkugel

Die Metallkapsel wird gestern von der Gersdorfer Kirche geholt. Zuschauer wollten wissen, was in ihr aufbewahrt wurde.

Teilen
Folgen
© nikolaischmidt.de

Von Anja Gail

Eingerüstet und von blauen Sicherheitsnetzen umhüllt, mutet die Gersdorfer Kirche schon von der Ferne imposant an. Gestern Vormittag sorgte zusätzlich ein kleiner Menschenauflauf für Betriebsamkeit auf dem Friedhof. Die meisten wussten durch Aushänge beim Bäcker und im Schaukasten der Kirchgemeinde davon, dass die Kugel vom Turm abgenommen werden sollte.

Was in der Turmkugel gefunden wurde

Ganz so schnell lässt sich das metallene Behältnis nicht öffnen.
Ganz so schnell lässt sich das metallene Behältnis nicht öffnen.
Bei Gemeindekirchenrätin Kerstin Frenzel ist die Kartusche aus der Kapsel in guten Händen.
Bei Gemeindekirchenrätin Kerstin Frenzel ist die Kartusche aus der Kapsel in guten Händen.
Geldscheine, Münzen, Dokumente und ein „Neuen Deutschland“ kommen zum Vorschein.
Geldscheine, Münzen, Dokumente und ein „Neuen Deutschland“ kommen zum Vorschein.
Barbara Ernst, die Frau des ehemaligen Pfarrers, verbindet eine abenteuerliche Geschichte mit der Gersdorfer Turmkugel.
Barbara Ernst, die Frau des ehemaligen Pfarrers, verbindet eine abenteuerliche Geschichte mit der Gersdorfer Turmkugel.

Barbara Ernst, die Frau des ehemaligen Pfarrers von Gersdorf, hatte sich deshalb von Görlitz auf den Weg gemacht. Sie verbindet eine ganz besondere Erinnerung mit der Gersdorfer Turmkugel. Im Juni 1967 sollte das vergoldete Behältnis aus einer Werkstatt in Schirgiswalde abgeholt werden. Niemand konnte sich das einrichten. So setzte sich die Pfarrersfrau ins Auto, allerdings unter ganz besonderen Umständen. Denn sie wartete schon seit einigen Tagen auf die Geburt ihres Kindes. „Deshalb legte ich vorsichtshalber das Entbindungsköfferchen mit ins Auto“, erzählt sie. Hinter dem Lenkrad war es für sie zwar ziemlich unbequem. Aber wohlbehalten schaffte sie den Weg und holte die Turmkugel zurück nach Gersdorf. Nur wenige Tage später kam ihre Tochter zur Welt.

Während sie das erzählt, haben sich über 40 Schaulustige, auch aus umliegenden Dörfern, eingefunden. Viele halten ihre Handys und Fotoapparate bereit. Was vor 51 Jahren mit in die Turmkugel gelegt wurde, daran kann sich niemand mehr erinnern. Es ist scheinbar auch nicht nirgends festgehalten oder überliefert worden. Inzwischen ist Handwerksmeister Frank Hempel aus Wilfsdruff mit Kollegen eingetroffen. Er wird den Turmknauf später mit in seine Werkstatt nehmen, wo er ebenso wie die Wetterfahne restauriert werden soll. Die Aktion kann beginnen. Innerhalb von wenigen Minuten klettern die Männer mit der Architektin und dem Glockensachverständigen über die Leitern und Böden des Gerüsts bis ganz nach oben. Michael Gürlach aus Niesky, der die Kirchenbaustelle in Gersdorf sicherheitstechnisch betreut, will den Aufstieg nutzen, um sich die Glockenanlage genau anzusehen.

Von oben ist immer wieder mal ein Klappern zu hören, während auf dem Friedhof ein Gemurmel von Stimmen dominiert. Dann ein Hämmern und kurz darauf sieht es so aus, als ob zwei Männer das Behältnis aus luftiger Höhe von gut 30 Metern wieder heruntertragen. Das kommt stellenweise einem Balanceakt gleich. Denn die Kugel erweist sich von ihrer Form her als Eichel mit einem langen kelchartigen Hals. Mit dieser Konstruktion manövrieren sich die Männer an den Gestängen des Gerüstes und an den Netzen vorbei. Als sie wieder den Friedhofsboden unter ihren Füßen spüren, setzen sie den Turmknauf erst mal ab. Die Auslöser etlicher Kameras klicken. Applaus ertönt. Doch noch liegt ein kleiner Kraftakt vor den Handwerkern der Firma Ostmann und Hempel. Das längliche Behältnis lässt sich gar nicht so leicht öffnen. Nach etlichen Anläufen gelingt das Unterfangen. Eine im Vergleich zu ihrer stattlichen Umhüllung schmächtig wirkende Kartusche kommt zum Vorschein. Sie soll nun im Gemeindehaus geöffnet werden. Kerstin Frenzel vom Gemeindekirchenrat lenkt den kleinen Menschenzug in das nahe Gebäude. Dort muss Frank Hempel mit einem Trennschleifer die Hülse aufflexen. Ein ohrenbetäubendes Geräusch macht sich im Gemeindehaus breit. Die Kartusche scheint ihren Inhalt nicht so ohne Weiteres preisgeben zu wollen. Dabei wird die Öffnung von den Umstehenden mit Spannung erwartet. Und nach einigen Minuten ist es dann auch so weit. Eine längliche Papierrolle und ein kleines Päckchen, in eine Zeitung eingewickelt, kommen zum Vorschein. Wegen ihrer relativen Unzugänglichkeit galten Turmknäufe schon immer als sichere Aufbewahrungsorte für historische Zeugnisse aus der Zeit des Baus. So werden Zeitungen oder Münzen verstaut, die man an die Nachwelt überliefern möchte. Insofern gibt es auch in der Gersdorfer Turmkugel keine Überraschung.

Das Päckchen gibt mehrere Münzstücke frei. Darunter Hartgeld aus der DDR. Es sind auch alte Münzen dabei. Die Papierrolle hat mehrere Schriftstücke umschlossen – die Turmakten. Ein „Neues Deutschland“ vom 17. Juni 1967 und übergroße Geldscheine sind darunter. Die handgeschriebenen Dokumente sind aus den Jahren 1967, 1892, 1873 und 1794 datiert. Namen von ehemaligen Pastoren und Gemeindekirchenraten tauchen auf ihnen auf.

„Das sollte alles in Ruhe gesichtet werden“, sagt Pfarrer Jürgen Schwarzbach, der seinen Gersdorfer Kollegen Andreas Bertram vertritt. Die Banknoten erweisen sich schnell als Inflationsgeldscheine. Es sind mehrere Milliarden. „Gersdorf ist ja steinreich“, ruft jemand in die Runde. Schön wäre es, vor allem für die Sanierung der Kirche. Denn die Kirchgemeinde lässt Dach und Turm erneuern. Für weitere Arbeiten reichen die Fördermittel und eigenen Gelder zurzeit nicht aus. Dafür freuen sich die Zuschauer über das, was sie gerade erlebt haben, denn so etwas gibt es auch in Gersdorf nicht alle Tage.