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Das Haftlager mitten im Stahlwerk

Der Riesaer Betrieb richtet 1958 ein Gefängnis ein. Die Häftlinge arbeiten Seite an Seite mit den Stahlwerkern – die wissen bis heute nur wenig darüber. 

Von Antje Steglich
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Im Fallwerk – das Foto entstand um 1965 – nahe der Industriestraße in Riesa wurde die Schlacke aus dem Stahlwerk zerkleinert. Direkt daneben befand sich das Standkommando. Fotos von der 75 Meter langen Baracke gibt es keine.
Im Fallwerk – das Foto entstand um 1965 – nahe der Industriestraße in Riesa wurde die Schlacke aus dem Stahlwerk zerkleinert. Direkt daneben befand sich das Standkommando. Fotos von der 75 Meter langen Baracke gibt es keine. © Stadtmuseum Riesa

Teil 2 der Serie "Zwischen Haft und Hölle"

Riesa. Als Helmut Neumann mit 17 Jahren eine Lehre im VEB Stahl- und Walzwerk Riesa beginnt, hat er längst seine Liebe zur Fotografie entdeckt. Die Kamera ist fast immer dabei. Egal ob im Stahlwerk oder beim Unterricht in der Betriebsberufsschulen an der Paul-Greifzu-Straße. Als einer der wenigen fotografiert er Ende der 1950er auch das Standkommando Riesa.

Das besteht aus nicht viel mehr als einer massiven Baracke, Stacheldraht und einem Wachturm an der Industriestraße. Das Gebäude zwischen Fallwerk und Martinwerk II, dem heutigen Feralpi, ist eigentlich ein Lagerschuppen. 

Doch das Stahlwerk braucht dringend Arbeitskräfte: „Der Ausbau unseres Rohrwerkes, wo wir uns durch die Selbstherstellung von legierten Rohren und die Weiterverarbeitung aller Rohrnormen vom kapitalistischen Ausland unabhängig machen wollen, bedarf weiterer Arbeitskräfte, ebenso das Martinwerk II“, schreibt Werkdirektor Eugen Lacour am 10. Juni 1958 an die Abteilung Strafvollzug in Berlin. 

Er bittet offiziell darum, auf dem Werksgelände ein Standkommando für 130 bis 150 Häftlinge errichten und bis 1965 auf eigene Kosten betreiben zu dürfen. Mit der Errichtung wurde da bereits begonnen. Am 19. Juli wird das Standkommando eröffnet, Ende Oktober werden 232 Häftlinge gezählt.

In Berlin reagiert man verschnupft und rügt die Abteilung Strafvollzug Dresden und das Stahlwerk für diesen Alleingang. Dennoch wird das Standkommando genehmigt, wenn auch mit Auflagen. Denn von Anfang an gibt es Kritik: Sowohl der 250 Quadratmeter große Aufenthaltsraum als auch die Außenanlage für die vorgeschriebene Freistunde am Wochenende seien zu klein. 

Der Waschraum misst nur 24 Quadratmeter – 25 Mann kommen auf ein Toilettenbecken, acht Häftlinge auf ein Waschbecken. Die Räume sind nicht beheizbar, kritisiert der medizinische Dienst bei einer Begehung Ende Juli 1958. Auch der Schlafraum nicht. Pro Häftling stellt das Stahlwerk deshalb drei Decken zur Verfügung, im Winter sogar vier. Zudem sind die Betten mit Stroh gepolstert. 

Vom Stahlwerk kommen die Mahlzeiten, zudem wird die Besetzung des Wachturmes durch den Betriebsschutz abgedeckt. Die eigentliche Wachmannschaft wird aus den Reihen der Volkspolizei gestellt. 32 Genossen insgesamt werden dafür abkommandiert. Einer sichert zunächst auch allein die Krankenversorgung ab, heißt es in einem Schreiben des medizinischen Dienstes. Der fordert deshalb von der Bezirksbehörde der Volkspolizei eine zusätzliche Planstelle.

 Zudem soll ein in Riesa niedergelassener Arzt eine Sprechstunde im Standkommando anbieten. Denn Arbeitsunfälle sind nicht selten. Zudem leiden die Häftlinge permanent unter Hautentzündungen, weil die blaue Arbeitskleidung auf der Haut reibt.

Die Arbeit ist schweißtreibend und hart, bestätigen auch frühere Stahlwerksmitarbeiter. 7.30 bis 17.30 Uhr wird malocht – unter anderem in der Adjustage oder beim Be- und Entladen von Waggons. Die Häftlinge arbeiten Seite an Seite mit den Mitarbeitern des Stahlwerks. 

„Es gab damals keine speziellen Bereiche für die Häftlinge oder Abgrenzungen“, erzählt ein damaliger Bereichsleiter im Stabwalzwerk. Die Gefangenen bilden eigene Brigaden, die von ausgesuchten Häftlingen angeführt werden. Diese Brigadiere bekommen dafür spezielle Vergünstigungen wie Extra-Schlafräume in der Baracke. „Einer der Brigadiere hat später, nach seiner Entlassung sogar bei uns angefangen“, erzählt der Zeitzeuge. 

Er habe sich gut angestellt. Das ist wichtig für den Betrieb. Denn die Steigerung der Produktivität und die Reduzierung der Ausfallstunden ist Dauerthema und nimmt auch in den Arbeitsplänen des Standkommandos – auch Haftarbeitslager genannt – eine große Rolle ein. Es werden Leistungsvergleiche mit dem Häftlingslager in Freital initiiert. „Kampf um die beste Gefangenenbrigade“ nennt man das. Zudem werden Anfang 1963 zusätzliche Erzieher eingestellt, um die „Gefangenenentweichungen“ zu reduzieren. 

Auch macht man „schöngeistige Literatur“ zugänglich und ein begrenztes Sortiment der HO. Besuche sind aufgrund der Räumlichkeiten aber keine möglich. In dem Standkommando kommen deshalb nur Häftlinge mit Strafen von maximal sechs Monaten unter. Daran wird sich wohl nicht konsequent erhalten, heißt es in den Akten. Über die Vergehen der Häftlinge erfährt man darin allerdings nichts.

Von all dem ahnt Helmut Neumann allerdings wenig. Als er aus dem zweiten Stock der Betriebsberufsschule schaut, will er einfach nur den Blick übers Stahlwerksgelände festhalten. Die Baracke in der Ferne nimmt er zwar wahr, „aber ich wusste ja gar nicht, was da drin ist“, erinnert sich der heute 78-Jährige. 

Allerdings wird auf dem Heimweg sein Koffer kontrolliert und auch das Bild von eben jener Baracke entdeckt. „Das Foto wurde mir abgenommen, und ich musste mich vor der Kripo verantworten“, erzählt Helmut Neumann, „ich wusste gar nicht, was die von mir wollten.“ Das haben wohl auch die Volkspolizisten gemerkt und lassen den jungen Mann laufen. 

Helmut Neumann erfährt erst später, dass er zufällig das Standkommando fotografiert hat. Bilder davon gibt es heute offensichtlich keine mehr. Und außer den Mitarbeitern des Strafvollzuges und den Häftlingen, hat die rot-braune Baracke wohl auch kaum jemand von innen gesehen.

Das Ende des Standkommandos wird am 13. November 1964 mit einem Schreiben des damaligen Innenministers und Chefs der Volkspolizei Friedrich Dickel an den Ministerrat der DDR besiegelt. Darin listet er eine ganze Reihe von Strafvollzugskommandos und -anstalten im Bereich der Volkswirtschaft auf, die geschlossen werden sollen. 

Auch Riesa. Der Generalstaatsanwalt habe das Standkommando bemängelt: „Unterkunft ungenügend, außerordentlich hohe Unfallziffer.“ Wahrscheinlich im Frühjahr 1965 wird es geschlossen – die Baracke aber zunächst weitergenutzt. Unter anderem von der Gesellschaft für Sport und Technik, kurz GST. Heute befinden sich auf dem Gelände Lagerflächen.

(Teil 1 unserer Serie "Zwischen Haft und Hölle finden Sie hier)

Direkt neben dem Fallwerk befand sich das Standkommando.
Direkt neben dem Fallwerk befand sich das Standkommando. © SZ-Grafik
Das Standkommando bestand aus einer Baracke mit vergitterten Fenstern. Die Häftlinge schliefen in einem Raum, ein weiterer stand für Essen, Freizeit und den Appell zur Verfügung. Geschirr und Kleidung lagerten im Magazin, die kleinen Schlafräume waren für
Das Standkommando bestand aus einer Baracke mit vergitterten Fenstern. Die Häftlinge schliefen in einem Raum, ein weiterer stand für Essen, Freizeit und den Appell zur Verfügung. Geschirr und Kleidung lagerten im Magazin, die kleinen Schlafräume waren für © SZ-Grafik