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Das schwere Los einer pflegenden Mutter

Über 150.000 Sachsen pflegen Angehörige zu Hause – und kommen körperlich, psychisch und finanziell oft an die Grenze.

Von Gabriele Fleischer
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Betreuung rund um die Uhr: Regelmäßig muss Agnes Naumann in Bautzen ihren 37-jährigen Sohn Peter mit Flüssignahrung versorgen. Selbst essen kann der Schwerkranke nicht mehr.
Betreuung rund um die Uhr: Regelmäßig muss Agnes Naumann in Bautzen ihren 37-jährigen Sohn Peter mit Flüssignahrung versorgen. Selbst essen kann der Schwerkranke nicht mehr. © Ronald Bonß

Peter Naumann hebt den Finger und lässt seine Augen wandern. Mehr geht nicht. Der 37-Jährige sitzt im Rollstuhl, kann nicht sprechen, nicht greifen, sich kaum bewegen. All das macht seine Mutter für ihn – seit zwei Jahren rund um die Uhr. Damit gehört die Bautzenerin zu den etwa 154.000 pflegenden Angehörigen in Sachsen. Sie betreuen mehr als zwei Drittel der insgesamt 212.000 Pflegebedürftigen im Freistaat.

„Es begann bei Peter mit Zittern, wie bei einer Parkinsonerkrankung“, erinnert sich Mutter Agnes Naumann. Ihr Sohn arbeitete damals als Meister in der Fischwirtschaft in Nürnberg und war bei der Feuerwehr aktiv. Vor knapp vier Jahren erhielt er dann die schlimme Diagnose: Morbus Wilson, Kupferspeicherkrankheit. Etwa einer von 30.000 Menschen leidet an der genetisch bedingten Krankheit. Bei ihnen ist die Fähigkeit gestört, überschüssiges Kupfer über die Gallenflüssigkeit in den Darm auszuscheiden. Es lagert sich vorzugsweise in Leber und Gehirn ab.

Peter ging es immer schlechter. Mit Pflegegrad 5 brauchte er Hilfe rund um die Uhr. Seine Lebensgefährtin war überfordert und trennte sich. Ein Pflegeheim war für Mutter Agnes Naumann allerdings keine Option. Also mietete sie für ihren Sohn eine behindertengerechte Wohnung in ihrer Nähe. So kam er nach 17 Jahren zu ihr zurück. Zu einer Zeit, wo die 70-Jährige bald selbst Hilfe braucht.

Inzwischen kennt Agnes Naumann jedes Detail der Krankheit. All das, was sie jetzt für ihren Sohn tun muss, hat sie sich angelesen und bei einem Wochenendkurs des DRK gelernt. Pflegeberater der Krankenkassen wissen, wo und wann es solche Kurse gibt. Regelmäßig fährt sie mit ihrem Sohn zur Untersuchung in die Spezialambulanz des Universitätsklinikums Dresden, wo er von Oberärztin Dr. Ulrike Reuner betreut wird. „Peter Naumann braucht ein Leben lang Hilfe, auch wenn wir versuchen, ihm Stück für Stück etwas Lebensqualität zurückzugeben“, sagt die Neurologin. Die Mutter begleitet ihren Sohn bei der Entgiftung. Tag für Tag, Nacht für Nacht die gleichen Handgriffe: ausziehen, waschen, lagern, Medikamente geben, Essen zubereiten, füttern, anziehen, zu Ärzten und Therapien begleiten. Routine wird das aber nie. „Und ich genieße auch die Nähe zu meinem Sohn, die ich so viele Jahre vermisst habe“, sagt sie.

Das größte Problem für pflegende Angehörige sind aber die Kosten. Agnes Naumann rechnet vor: Von 1.100 Euro EU-Rente und 900 Euro Pflegegeld gehen ab: 700 Euro Miete, 200 Euro Akupunktur, 140 Euro Entspannungsmassage, 100 Euro in der Apotheke für Waschhandschuhe, Salben, Mundschutz, Salzlösung zum Inhalieren, Nahrungsergänzungsmittel, 140 Euro für Windeln und ab Frühjahr 400 Euro Reittherapie. Dazu Essen und Nebenkosten. Geld dafür, dass sie ihren Sohn pflegt, bleibt nicht. Zum Glück bekommt sie Rente – und dank Unterstützung durch die Krankenkasse Logopädie, Ergo- und Physiotherapie, elektrischen Stehrollstuhl und Sprachcomputer für den Sohn.

Das Geld reicht oft nicht

Anderen, die für die Pflege aus dem Beruf ausscheiden müssen, geht es schlechter. „Dann gibt es bestenfalls eine Zeit lang Arbeitslosengeld. Für viele Pflegende beginnt damit der Weg in die Altersarmut. Und, da sie am gesellschaftlichen Leben kaum teilnehmen können, die soziale Ausgrenzung“, sagt Annelie Wagner, Interessenvertreterin pflegender Angehöriger in Sachsen. Zwar steht Berufstätigen bis sechs Monate im Jahr Pflegezeit zu, aber ohne Bezahlung. Sie gilt auch nur für Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten. Für maximal zehn Tage gibt es ein Pflegeunterstützungsgeld, das 90 Prozent des ausgefallenen Nettoarbeitsgeldes entspricht und bei der Kasse zu beantragen ist. 

Ein zinsloses Darlehen für pflegende Angehörige sei keine echte Förderung, weil es zurückgezahlt werden müsse, sagt Wagner. Noch versucht Agnes Naumann, am Leben teilzunehmen, meist nur über Computer oder Telefon. Maximal sechs Wochen im Jahr kann sie Verhinderungspflege in Anspruch nehmen, die mit der Pflegekasse abgerechnet wird. 1.612 Euro je Kalenderjahr gibt es dafür. „Wird diese Pflege von Haushaltsangehörigen oder Verwandten bis zum zweiten Grad erbracht, werden die Kosten bis Pflegegeldhöhe erstattet“, sagt Manja Kelch vom Sozialministerium Sachsen.

Warten auf eine Reha

Weil Rentnerin Naumann Peters Pflege allein nicht schafft, hilft ihr ab und zu ein Pflegedienst. „Die Pfleger sind drei- bis viermal am Tag da, aber das reicht nicht. Für Betreuung oder Begleitung, wie es Peter rund um die Uhr braucht, sind sie nicht zuständig“, sagt sie. Einmal wöchentlich unterstützt sie der Malteser Besuchsdienst. Manchmal bittet sie ihre Freundin. Die 125 Euro Entlastungsgeld, die sie monatlich für Peters Pflege bekommt, kann sie dafür einsetzen. „Letzten Monat brauchte ich das Geld, damit ich zur Morbus-Wilson-Tagung fahren konnte“, sagt Naumann. Auch das soll ihrem Sohn zugutekommen. Von den Pflegekoordinatoren, wie sie in den Kreisen arbeiten, wünscht sie sich den Aufbau eines Netzwerkes und mehr Hausbesuche. Sie möchte sich mit anderen austauschen. Aber wohin soll sie sich wenden?

Es ist Zeit fürs Abendbrot. Agnes Naumann füllt die Spritze mit Flüssignahrung. 2.000 Kalorien braucht ihr Sohn am Tag. „Manchmal püriere ich Gemüse und Kartoffeln, mische Joghurt mit geriebenen Äpfeln und füttere ihn“, sagt Naumann. Das bringe ihrem Sohn ein Stück Normalität.

Eine Reha soll der Mutter Zeit zum Durchatmen schaffen. Denn selbst wenn sie die Nähe zu ihrem Sohn nicht missen möchte, merkt sie, wie ihr Körper Auszeiten fordert. Seit diesem Jahr gibt es für pflegende Angehörige und den zu Pflegenden einen Rechtsanspruch auf eine Reha. Darauf wartet sie – auf Therapien für Peter und psychologische Hilfe für sich.

Noch möchte sie ihn nicht loslassen. Aber irgendwann wünscht sich Agnes Naumann für den Sohn in ihrer Nähe eine Wohngemeinschaft mit anderen jungen Menschen, die Hilfe brauchen wie er. Askir-Paraliving in Dresden ist so eine Einrichtung, die stationäre und ambulante Intensivpflege für 16- bis 50-Jährige anbietet – eher eine Ausnahme in Sachsen. 22 Intensivpflegebetten gibt es dort seit 2013, finanziert durch Pflegekassen und Eigenanteile, 1.400 bis 1.600 Euro.

Was sich Agnes Naumann noch wünscht? Die Finanzierung einer Anlaufstelle für pflegende Angehörige in der Kommune, die Finanzierung einer monatlichen Betreuungsleistung durch die Kommune in Höhe von 125 Euro – und eine Notfallnummer für pflegende Angehörige, wo sie sich jederzeit hinwenden können.


Ihre Meinung ist gefragt

● Im Rahmen eines Gesundheitskongresses am 5. und 6. April im Internationalen Congresscenter Dresden bietet die AOK Plus am 5. April, 16.30 bis 18 Uhr, ein kostenfreies Diskussionsforum für pflegende Angehörige mit Pflegeexpertin Claudia Schöne an. Anmeldungen sind per Mail ([email protected]) oder telefonisch (030 827875514) möglich.

● Für pflegende Angehörige in Sachsen ist Annelie Wagner aus Zwickau Ansprechpartnerin (Telefon: 0375 523054). Für die Interessenvertretung sucht sie Mitstreiter. Infos unter:  www.wir-pflegen.net

● Bei den Krankenkassen in Sachsen arbeiten Pflegeberater. Der Freistaat stellt zudem ein Online-Beratungsangebot bereit. Infos unter: www.pflegenetz.sachsen de oder www.wege-zur-pflege.de