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„Das war nicht allein Biedenkopfs Verdienst“

Neu aufgetauchte Dokumente rütteln am Gründungsmythos des Landesgymnasiums St. Afra.

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© Claudia Hübschmann

Von Peter Anderson

Meißen. Es ist eine sächsische Erfolgsgeschichte, die im aktuellen Jubiläumsjahr gern und oft erzählt wird. Vor 475 Jahre errichtete Herzog Moritz von Sachsen St. Afra als eine von drei Fürstenschulen in seinem Herrschaftsbereich. Der „eigentliche Anstoß“ zur Wiedergründung als Landesgymnasium sei nach der Wende von Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU) gekommen. So jedenfalls stellte es der erste Leiter der neuen Schule Werner Esser dar, kurz nachdem das Hochbegabtengymnasium seinen Betrieb aufgenommen hatte.

Wieder aufgetauchte Dokumente von Anfang der 90er Jahre zeigen nun allerdings, dass die Geschichte deutlich komplexer war, als es der Gründungsmythos suggeriert. Die Unterlagen stammen aus dem Archiv des früheren Meißner FDP-Landtagsabgeordneten Ludwig Martin Rade. Für den 78-Jährigen steht fest: Der Aufbau des Landesgymnasiums ist nicht allein Biedenkopfs Verdienst gewesen. Im Gegenteil, in der Anfangszeit des Freistaates Sachsen hätten sich mehrere Ministerien um die attraktiven Immobilien der alten Fürstenschule auf der Freiheit gestritten. Das Projekt stand auf der Kippe.

Tatsächlich offenbart ein Blick in Rades Privatarchiv, wie chaotisch es zu Beginn der 1990er Jahre in Meißen zuging. Nach dem Aus für die 1953 gegründete LPG-Hochschule zog nach einer kurzen Übergangsperiode in den neoklassizistischen Bau aus dem 19. Jahrhundert das neu gegründete und vom Kreis getragene Gymnasium St. Afra ein. Aus Eigeninitiative entstand ein ganz neue Schule ohne Wurzeln in einer EOS. In Dresden allerdings entstanden Begehrlichkeiten. In einer Antwort auf eine Anfrage teilte das Finanzministerium im Frühjahr 1992 mit, den restaurierten Ökonomiehof der früheren Fürstenschule bereits an die Evangelische Akademie verkauft zu haben. Meißens Landrätin Renate Koch (CDU) war bei den Verhandlungen von ihren Parteikollegen in der Staatsregierung außen vor gelassen worden.

Geschichte wird hinterfragt

Bei Ludwig Martin Rade läuteten die Alarmglocken. „Für mich stand immer fest, dass der Ökonomiehof und die Schule zusammengehören“, sagt er. Mit dem Verkauf geriet aus seiner Sicht das ganze Projekt einer Hochbegabtenschule auf der Freiheit in Gefahr. Der Liberale wandte sich mit einem Brief an Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, worin er forderte, die Landesschule St. Afra wieder zu dem werden zu lassen, was sie früher darstellte, nämlich einem Gymnasium für Begabte mit landesweiter und europaweiter Bedeutung. Später kam es zu einem persönlichen Gespräch mit Biedenkopf. Rade folgte mit seinem Engagement für die Landesschule einer Idee, welche Sachsens Wissenschaftsminister Hans Joachim Meyer (CDU) erstmals 1991 geäußert hatte.

Während die Vergabe des Ökonomiehofes an die Evangelische Akademie nicht zu korrigieren war, nahmen die Pläne für ein Gymnasium in Trägerschaft des Freistaates in den folgenden Jahren weiter Gestalt an. 1994 beschloss das Kabinett, Meißen vor dem konkurrierenden Grimma den Vorzug als Standort zu geben. Der Landkreis musste die Immobilie trotz Protesten und Streit um den Namen räumen. Ab 1998 begann der Bau an dem rund 40 Millionen Euro teuren Prestigeprojekt. Ende der 90er Jahre wurde der Reformpädagoge Werner Esser als Gründungsleiter berufen. 2001 zogen die ersten Schüler ein.

Nach mittlerweile 17 Jahren sind die wilden Anfangszeiten schon Geschichte. Diese werde derzeit „zwar wenig von Interessenten nachgefragt“, so Afra-Bibliothekar Thomas Schubert. Er sei sich jedoch sicher, dass sie „früher oder später auch hinterfragt werden wird.“