Merken

Das Wir-sind-Helden-Prinzip

Die Bundeswehr tut sich schwer mit der Geschichte. Das machte der Skandal um den rechtsextremen Soldaten Franco A. deutlich. Nun soll die Truppe stärker zu sich selbst finden.

Teilen
Folgen
© Holger Hollemann/dpa

Hannover. Ursula von der Leyen steht vor dem Appellplatz der Emmich-Cambrai-Kaserne am Rednerpult. Hunderte Soldaten haben sich vor ihr aufgereiht. Der Morgen ist neblig und kalt. Vor vier Tagen erst, da habe sie das deutsche Feldlager in Afghanistan besucht, berichtet die Verteidigungsministerin. Da sei sie auch zur Gedenktafel für den Feldjäger Tobias Lagenstein gegangen, eine „schlichte Platte“, umringt mit Andenken von Kameraden. „Es war ein eindrücklicher, ein bewegender Moment, die Tafel im Schein der Fackeln zu sehen.“ Der Name Lagenstein steht künftig nicht mehr nur Tausende Kilometer entfernt auf einer Gedenktafel am Hindukusch, sondern auch großflächig an der Einfahrt zur Hannoveraner Kaserne.

Die Kaserne ist Sitz der Feldjäger-Schule der Streitkräfte und wird künftig Hauptfeldwebel-Lagenstein-Kaserne heißen.
Die Kaserne ist Sitz der Feldjäger-Schule der Streitkräfte und wird künftig Hauptfeldwebel-Lagenstein-Kaserne heißen. © Hauke-Christian Dittrich/dpa
Namensgeber ist Tobias Lagenstein, ein früher in Hannover stationierter Feldjäger, der 2011 bei einem Anschlag in Afghanistan ums Leben gekommen war.
Namensgeber ist Tobias Lagenstein, ein früher in Hannover stationierter Feldjäger, der 2011 bei einem Anschlag in Afghanistan ums Leben gekommen war. © Archivbild/Werner Cavalleri/Bundeswehr/dpa

Die Feldjäger-Schule heißt nun Hauptfeldwebel-Lagenstein-Kaserne. Erstmals in der Geschichte der Bundeswehr trägt eine Kaserne damit den Namen eines in einem Auslandseinsatz getöteten Bundeswehrsoldaten. Der frühere Namensgeber Otto von Emmich war ein preußischer General im Ersten Weltkrieg, seine Rolle beim deutschen Einmarsch in Belgien ist umstritten. Tobias Lagenstein war ein in Hannover stationierter Feldjäger, der 2011 bei einem Sprengstoffanschlag in Afghanistan starb. Bei der Zeremonie geht es um mehr als um die Umbenennung einer Liegenschaft oder eine Handvoll neuer Namensschilder. Von der Leyen will damit ein Zeichen setzen im Umgang der Truppe mit der schwierigen deutschen Vergangenheit.

Deshalb kommt die CDU-Politikerin am Mittwoch selbst nach Hannover. Deshalb unterzeichnet sie in eben jener Kaserne auch den neuen Traditionserlass der Bundeswehr. Der Erlass regelt, auf wen und was deutsche Soldaten stolz sein dürfen und welche Fahnen und Bilder sie sich in die Stube hängen dürfen. Denn Vorbilder und Traditionen sind wichtig im Militär. Junge Soldaten hätten teils das Bild des Kämpfers vor Augen, sagt Dirk Waldau, der Kommandeur der Feldjäger-Schule. Sie suchten sich mitunter Vorbilder aus Phasen, wo das „Handwerk“ auch ausgeübt wurde. „Das ist natürlich ein Irrweg.“

Die Richtlinien wurden seit 1982 nicht mehr geändert. Damals stand die Bundeswehr an der Front des Kalten Kriegs. Seitdem ist viel passiert. Die Wehrpflicht gibt es nicht mehr, dafür eine Truppe mit mehr als einem Dutzend Einsätzen in aller Welt. Der alte Erlass war überholt. Doch das war nicht der eigentliche Anlass für die Überarbeitung. Vor knapp einem Jahr erschüttert der Fall Franco A. die Bundeswehr. Der rechtsextreme Oberleutnant soll sich als Flüchtling getarnt und gemeinsam mit Kameraden Anschläge geplant haben. Der Skandal löst eine Debatte über Hakenkreuze, Landser-Bilder und Wehrmachtsfotos aus. Generalinspekteur Volker Wieker spricht am Mittwoch von einem „Augenöffner für uns alle“.

Die Truppe begibt sich mit dem Fall Franco A. auf Sinnsuche. Und die Verteidigungsministerin zieht alle Register. Sie lässt Meldeketten überprüfen, veranstaltet Workshops, lässt sogar bundesweit alle Kasernen nach Wehrmachtsandenken durchsuchen. Die CDU-Politikerin wirft ihrer Truppe ein „Haltungsproblem“ vor. Sie entschuldigt sich im Nachhinein zwar mehrfach dafür, doch viele Soldaten nehmen ihr das nach wie vor übel. Von der Leyen gerät unter Druck wie nie zuvor in ihrer Amtszeit. Gerade in die zweite Amtszeit gestartet, will sie mit dem feierlichen Appell in Hannover nun auch einen Schlussstrich unter eine schwierige Debatte ziehen.

So mancher Vorwurf gegen Franco A. hat sich nicht erhärtet, er und seine mutmaßlichen Komplizen sind wieder auf freiem Fuß. Aber er hat gezeigt, wie schwer sich die Bundeswehr mit den Traditionen tut. Von der Leyen will mit dem Erlass Orientierung geben, Unsicherheiten beseitigen. Die Bundeswehr soll ihre Helden künftig in ihren eigenen Reihen und in ihrer mehr als 60 Jahre alten Geschichte suchen. „Auf diese Geschichte darf die Bundeswehr unendlich stolz sein“, sagt sie. Die Wehrmacht und die Nationale Volksarmee der DDR als Institutionen könnten keine Tradition stiften.

Der Erlass ist aber keine radikale Neufassung, auch er bricht nicht komplett mit der Wehrmachtszeit. Es komme auf den Einzelfall an, auf vorbildliche Leistungen, auf die Frage der persönlichen Schuld, heißt es in dem Papier. „Wir müssen immer sorgfältig abwägen“, sagt von der Leyen. „Militärische Exzellenz allein genügt jedenfalls nicht.“ Die Soldaten sollen sich also weiter mit den Angehörigen der Wehrmacht beschäftigen, sie sollen nachdenken und abwägen. Rechte Soldaten wie Franco A. dürften sich in ihrer Weltanschauung sowieso nicht von einem elfseitigen Papier beeindrucken lassen.

Der Name Lagenstein jedenfalls steht nun für den Traditionswechsel der Truppe. Die Initiative für die Umbenennung ging von den Soldaten vor Ort aus. Von der Leyen bezeichnete den 31-Jährigen als Vorbild. „Ich kann mir deswegen keinen besseren Namensgeber für diese Kaserne denken.“ Der neue Name der Kaserne trägt auch die Einsatzrealität der Soldaten ein Stück näher in die Gesellschaft. Er steht für eine Einsicht, die Politik und Öffentlichkeit lange scheuten: Deutsche Soldaten riskieren in den Einsätzen Leib und Leben.

Noch immer tragen aber mehr als zwei Dutzend Kasernen in Deutschland den Namen von Wehrmachtssoldaten, und längst nicht alle werden zum militärischen Widerstand gerechnet. So ist etwa Luftwaffenoffizier Helmut Lent (1918-1944), ein hochdekorierter Weltkriegsflieger und Propagandafigur der Nazis, nach wie vor Namenspate einer Kaserne in Rotenburg/Wümme. Pläne zur Umbenennung scheiterten bislang an den Soldaten und dem Stadtrat vor Ort. (dpa)