Merken

Wolfgang Schnur ist tot

Schnur gehörte zu den ambitioniertesten DDR-Politikern der Wende-Zeit. Angela Merkel war seine Pressesprecherin. Schnurs Spitzeltätigkeit für die Staatssicherheit bereitete seiner Karriere ein schnelles Ende.

Teilen
Folgen
NEU!
© dpa

Von Kirsten Baukhage

Berlin/Wien. Er verteidigte DDR-Dissidenten, arbeitete mehr als 20 Jahre als Stasi-Spitzel und entdeckte das politische Talent von Angela Merkel: Wolfgang Schnur war einer der prominentesten und schillerndsten Wendepolitiker der DDR. In der turbulenten Umbruchzeit 1989/1990 legte er als Mitbegründer der Bürgerbewegung „Demokratischer Aufbruch“ (DA) einen steilen politischen Aufstieg hin.

Schnur galt für CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl als Hoffnungsträger und Verbündeter bei den ersten freien Volkskammerwahlen im März 1990. Doch nach seiner Enttarnung als Stasi-Spitzel kurz vor der Wahl stürzte Schnur ebenso rasant ab. Am 16. Januar starb der 71-Jährige in Wien an Krebs.

„Wolfgang Schnur war eine tief gespaltene Persönlichkeit, die sich des Zwiespalts gar nicht mehr bewusst war“, sagte DA-Mitbegründer Friedrich Schorlemmer am Mittwoch nach Bekanntwerden des Todes von Schnur der „Mitteldeutschen Zeitung“. „Er war selbstunsicher und geltungssüchtig.“ Der dritte Mitbegründer - der ehemalige Pfarrer und CDU-Politiker Rainer Eppelmann - wollte sich am Mittwoch nicht zu Schnur äußern.

Selten hat ein Anwalt und Politiker seine Klienten und Mitstreiter so überzeugend getäuscht wie Schnur. Roland Jahn, einst selbst Oppositioneller und heute Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, sagte im Juni 2015, Schnur habe ihm in der DDR-Haft Halt gegeben, er sei ihm wie ein Seelsorger erschienen. „Er war beeindruckend“, sagte Jahn bei der Vorstellung des Buches von Alexander Kobylinski „Der verratene Verräter“ über das Doppelleben Schnurs. Kobylinski ist überzeugt, dass „IM Torsten“ von seinen eigenen Führungsoffizieren an den Runden Tisch verraten wurde.

Der Anwalt mit dem seltenen Privileg einer eigenen Kanzlei in der DDR engagierte sich früh in der Evangelischen Kirche und stieg dort bis zum Vizepräses ihrer Synode auf. Als solcher genoss er das Vertrauen von DDR-Bürgerrechtlern und Wehrdienstverweigerern, die er gegen den Staat vertrat. Später wurde bekannt, dass Schnur sich bereits 1964 zur Zusammenarbeit mit dem allmächtigen DDR-Ministerium für Staatssicherheit verpflichtet hatte. Als Ende 1989 DDR-Zeitungen und Anfang März 1990 das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ davon berichteten, leugnete Schnur dies zunächst vehement.

Für den damals 45-jährigen DA-Vorsitzenden stand viel auf dem Spiel. Konsequent hatte Schnur vor der Wahl die Annäherung und Zusammenarbeit mit der Bundes-CDU unter Kanzler Kohl betrieben. Er hätte der erste frei gewählte Ministerpräsident der DDR werden können. Der linke Flügel des DA unter Schorlemmer verließ deshalb den „Demokratischen Aufbruch“. An der Seite Schnurs als seine Pressesprecherin blieb dagegen die damals noch unbekannte Angela Merkel.

Erst vier Tage vor der Wahl am 18. März - unter dem Druck immer mehr belastender Stasi-Akten und der Bundes-CDU - räumte Schnur die Vorwürfe ein. Dabei habe er „niemals jemanden belastet oder denunziert“, erklärte der Anwalt damals.

Von da an ging es nur noch bergab für den einst so prominenten Anwalt. 1993 entzog ihm die Berliner Justizverwaltung seine Zulassung als Anwalt wegen „Mandatsverrats und Unwürdigkeit“. 1996 bescheinigte ihm auch das Berliner Landgericht den Verrat der beiden DDR-Bürgerrechtler Freya Klier und Stephan Krawczyk an die Stasi und verurteilte ihn zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung. Erst im Prozess bekannte Schnur eine „moralische Schuld“.

Danach versuchte sich Schnur durch verschiedene Beratertätigkeiten über Wasser zu halten. Laut Autor und Schnur-Biograf Kobylinski lebte Schnur in den vergangenen 15 Jahren von Sozialhilfe, erst in Brandenburg, dann zuletzt bei Bekannten in Berlin. Der Vater von nach eigenen Angaben elf Kindern soll am 28. Januar in Berlin beerdigt werden. (dpa)