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Familienkompass

Warum sind wir so wütend?

Das Miteinander in der Gesellschaft droht zu zerbrechen. Eltern müssen ihre Erziehung überdenken, sagen Experten.

Von Daniel Krüger
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Mütter Annett Hahn (links) und Ulrike Klaus (rechts): Wollen aus alten Mustern ausbrechen und die Beziehung zu ihren Kindern stärken. Laut Pädagogen ist Selbstreflexion der wichtigste Schlüssel zu guter Erziehung.
Mütter Annett Hahn (links) und Ulrike Klaus (rechts): Wollen aus alten Mustern ausbrechen und die Beziehung zu ihren Kindern stärken. Laut Pädagogen ist Selbstreflexion der wichtigste Schlüssel zu guter Erziehung. © Marvin Graewert/SZ

Überall auf dem bunten Teppich liegen Bauklötze verstreut. Mehrere Kuscheltiere blicken erwartungsvoll aus einer Kiste in der Ecke, gelbe und rote Murmeln möchten gerne mit der Holzachterbahn gefahren werden. „Wir sehnen uns alle nach Aufmerksamkeit“, sagt Julia Klamke.

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Aufmerksamkeit. Sie liegt beim Mutter-Kind-Treff im Dresdner Mehrgenerationenhaus „riesa efau“ an diesem Freitagmorgen nur indirekt auf dem Nachwuchs. Während der sich in der Mitte des Raums konzentriert mit den verschiedenen Spielsachen beschäftigt, bilden die Eltern um ihn herum einen Sitzkreis auf dem Boden.

Bei Erziehungsberaterin Klamke, die das Treffen regelmäßig moderiert, geht es dieses Mal um das Thema Strafen. Mütter, Väter, ein Lehrer und zwei Hortbetreuer sind gekommen. 

Sie schätzen die Treffen, denn hier dürfen sie tun, was in der durchoptimierten Gesellschaft schnell als Versagen gewertet wird. Über Sorgen und Ängste sprechen, über negative Gefühle, auch gegenüber den eigenen Kindern.

Eigene Kindheit spielt wichtige Rolle

Vorstellungsrunde. Warum sind sie heute hier? „In mir existiert so eine Wut, die immer wieder hochkommt, wenn mein Kleiner nicht gehorcht“, sagt Ingenieurin Ulrike Klaus, blonder Pferdeschwanz, Kapuzenpullover.

„Es fällt mir im Lauf des Tages schwerer, die Gefühle herunterzuschlucken. Ich wurde ziemlich streng erzogen. Aber ich will nicht in das Verhaltensmuster meiner Eltern zurückfallen.“ Zustimmendes Nicken in der Runde. Eine andere Mutter berichtet, sie sei unzufrieden damit, weil sie in der Erziehung oft impulsiv reagiere.

Das gegenteilige Problem hat die 37-jährige Annett Hahn. Sie hält sich für nicht streng genug. Ihre einjährige Tochter höre einfach nicht auf Mama. Die Gründe dafür sieht auch Hahn in der eigenen Kindheit. 

„Meine Eltern waren mit ihrer Firma beschäftigt und haben mich quasi mir selbst überlassen“, sagt Hahn. Dass ihr selbst nie Grenzen und Regeln aufgezeigt wurden, habe ihr dann bereits im Studium geschadet. Ihrer Tochter wünscht sie zwar Eigenständigkeit, aber auch, dass sie in der Gesellschaft später gut zurechtkommt.

Die Welt als "Kampfplatz"

„Etwa die Hälfte aller Eltern übernimmt den Erziehungsstil aus der eigenen Kindheit“, sagt Beraterin Klamke. Ein Großteil der Menschen hinterfrage das ganze Erwachsenenleben lang nie die eigenen Glaubenssätze, so die Erfahrung der 35-Jährigen.

Und das kann, glaubt man Wissenschaftlern und Pädagogen, zum Problem werden. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass das sogenannte „Erziehungsklima“ entscheidenden Einfluss darauf hat, ob Kinder ein ausgewogenes Verhältnis zu sich selbst und anderen entwickeln – und ob dieses Verhältnis später leicht aus dem Gleichgewicht gerät.

Die Frage nach dem richtigen Erziehungsstil, sie ist in Zeiten zunehmender Polarisierung, Spaltung und Hassreden in den sozialen Medien auch gesellschaftspolitisch relevant. Der Stuttgarter Kinderarzt Herbert Renz-Polster etwa geht davon aus, dass ein strenges Elternhaus auch zu einer höheren Anfälligkeit für Populismus und Neigung zu autoritärer Politik führt.

Seine Begründung: Wer in der Kindheit „hörig“ sein muss, fühle sich als erwachsener Mensch der Welt kaum gewachsen und suche im „Äußeren nach Sicherung“, schrieb Renz-Polster vergangenes Jahr in einem Essay für die Sächsische Zeitung. Entscheidend sei in der kindlichen Wahrnehmung, „ob die Welt ein Kampfplatz ist oder eine Heimat, ob sie trägt oder wir jederzeit verstoßen werden können.“

Das Kind langsam an die Realität heranführen

Auch Klamke glaubt, dass eine demokratische Gesellschaft darauf basiert, dass bereits in der Erziehung auf die Anliegen des Kindes Rücksicht genommen wird. „Werte haben mit Bedürfnissen zu tun. Je nachdem wie gut unsere Bedürfnisse erfüllt wurden, können wir später unsere Grenzen und Wünsche und die anderer verstehen und respektieren.“

Doch nicht nur die autoritäre Erziehung, die von klassischem Gehorsam lebt, erfüllt diese Kriterien nicht. Auch die sogenannte Laissez-Faire-Erziehung, bei der Eltern ihren Kindern kaum Vorgaben machen und auch gefühlsmäßig auf Distanz gehen, sehen Experten kritisch.

 „Ich muss ein Kind zunächst langsam an die Realität heranführen, damit es sich später einerseits in der Gesellschaft zurechtfindet und andererseits in der Lage ist, Bestehendes in Frage zu stellen“, erklärt Erziehungswissenschaftler Florian Dobmeier.

Es sei ein grundsätzlicher Widerspruch moderner Erziehung, dass demokratische Freiheit eben nur durch gewissen Zwang zustande käme. „Gleichzeitig braucht jeder Mensch Urvertrauen und bedingungslose Elternliebe“, so Dobmeier. 

Sie trage dazu bei, dass Kinder als Erwachsene selbstsicherer durch das Leben gehen können. Wer keine Orientierung habe, laufe später Gefahr, diese bei autoritären Gruppen zu suchen.

Gleichzeitig dürften Kinder aber auch nicht in Watte gepackt werden. „Die Gesellschaft ist momentan von einer starken Ängstlichkeit geprägt“, sagt Dobmeier. Wer seine Kinder aber nicht mit der echten Welt in Berührung bringe, der riskiere bei seinem Nachwuchs später, dass dieser ungebremst in der harten Realität mit all ihren Leistungsanforderungen aufpralle. 

Die Folge: Abstumpfung und Zynismus, bis hin zur Ablehnung von demokratischen Grundprinzipien. Der Soziologie Theodor W. Adorno prägte für dieses Phänomen einst den Begriff der „bürgerlichen Kälte“.

Erziehungsberaterin Klamke fordert: Mütter sollen und müssen die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen. Auch, um ihren Kindern Grenzen zeigen zu können. 
Erziehungsberaterin Klamke fordert: Mütter sollen und müssen die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen. Auch, um ihren Kindern Grenzen zeigen zu können.  © Marvin Graewert/SZ

Moderne Erziehung ist ein Balance-Akt. Und theoretisches Wissen hilft nicht alleine. Beim „riesa efau“ ist Julia Klamke deshalb bemüht, den Besuchern viele praktische Tipps für den Alltag mit auf den Weg zu geben. 

„Ich muss mich fragen: Warum möchte ich eigentlich, dass mein Kind dies oder jenes tut? Welcher Sinn, welches Ziel steckt dahinter?“, sagt Klamke. In diesem Zusammenhang sei es auch wichtig, den Unterschied zwischen Strafen und Konsequenzen zu kennen.

„Kinder brauchen Regeln. Wenn sie die überschreiten, dann muss ich ihnen eine Konsequenz aufzeigen, die auch im Erwachsenenleben gelten würde.“ Zerbricht das Kind etwa Wachsmalstifte und schmiert mit ihnen den Tisch voll, empfiehlt Klamke, anschließend gemeinsam sauber zu machen.

„Außerdem könnte ich sagen: Wir können leider am Wochenende nicht ins Kino, weil wir das Geld für neue Stifte brauchen.“ Auch Wut sei völlig in Ordnung. „Wenn wir uns ohnmächtig fühlen, sind wir wütend. Kinder wollen am Anfang aber nicht provozieren, sondern unsere Emotionen sehen. Das ist ganz normal. Wir dürfen ihnen also zeigen, wie wir uns fühlen und auch mal laut werden.“

Eigenständiges Denken ist gefragt

Gleichzeitig gelte es, falsches Verhalten nicht durch zu viel Aufmerksamkeit zu belohnen. „Stattdessen sollten Eltern in ihrer Haltung klar und konsequent sein, aber auch eigene Fehler eingestehen können“, sagt Klamke.

Ulrike Klaus und Annett Hahn fühlen sich nach dem zweistündigen Treffen erleichtert. „Ich habe gelernt, dass ich meine eigenen Bedürfnisse beachten darf“, sagt Klaus, während sie ihren Sohn im Arm hält. Und Hahn ergänzt: „Ich habe gemerkt, dass mir von früher viel fehlt. Das will ich jetzt besser machen.“

Dass sich Eltern selbst ernst nehmen, ist genau das Ergebnis, das Julia Klamke mit dem Austausch erreichen wollte. „Demokratisch erziehen, heißt jemanden zum eigenständigen Nachdenken zu bewegen“, sagt Klamke im Anschluss an die Diskussionsrunde. Und weil das immer mehr Eltern tun, sieht Kinderarzt Renz-Polster entgegen des vermeintlich vorherrschenden politischen Pessismus positiv in die Zukunft.

Keine Gesellschaft auf deutschem Boden sei je derart liberal, offen und vielfältig gewesen. Mit entsprechender „Schutzkraft“, die Eltern auf ihre Kinder übertragen, könne diese Menschlichkeit auch weiterhin erhalten bleiben, so schreibt er.

Familienkompass 2020

  • Was ist der Familienkompass? Der Familienkompass ist eine sachsenweite Umfrage von Sächsische.de, LVZ und Freie Presse, wissenschaftlich begleitet von der Evangelischen Hochschule Dresden.
  • Worum geht es? Wir wollen wissen: Wie kinder- und familienfreundlich sind die einzelnen Gemeinden und Städte im Freistaat? Dafür brauchen wir Ihre Hilfe. Alle Ergebnisse werden wissenschaftlich ausgewertet und nach der Befragungsphase intensiv für unsere Leser aufbereitet.
  • Wann? Die Befragung findet vom 28. Februar bis 9. April 2020 statt.
  • Wie kann ich mitmachen? Den Fragebogen finden Sie unter www.saechsische.de/familienkompass.
  • Was passiert mit meinen Daten? Die Daten der Befragung werden streng vertraulich behandelt und ohne Personenzuordnung wissenschaftlich ausgewertet. Und als Dankeschön für die Zeit wartet ein tolles Gewinnspiel.