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Der Anfang vom Ende

Vor 20 Jahren brach Jan Ullrich bei der Tour de France fürchterlich ein – es ist ein jäher Wendepunkt in seiner Karriere.

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© dpa

Von Christoph Leuchtenberg

Das Gelbe Trikot war nur noch eine schiere Hülle, und in ihr steckte ein Häuflein Elend. Durchnässt, bitterlich frierend und am Ende seiner Kräfte quälte sich Jan Ullrich hinauf nach Les Deux-Alpes, den Titel der Tour de France hatte er da längst an den Italiener Marco Pantani verloren. Und daheim an den Bildschirmen verfiel die neugeborene Radsport-Nation Deutschland in Schockstarre. „Es war die schlimmste Etappe meines Lebens“, sagte Ullrich später einmal über jenen 27. Juli 1998.

Ein Tag, der für ihn ein Wendepunkt war, der den öffentlichen Blick auf einen jungen Heroen veränderte, der eine ganze Sportart im Alleingang wieder in den Fokus der deutschen Massen gehievt hatte. Für den damals 24-Jährigen war es gewissermaßen der Anfang vom wenig ruhmreichen sportlichen Ende.

Ullrich war als Topfavorit zur Tour 1998 angetreten, ein Jahr nachdem er als erster deutscher Sieger des härtesten Rennens der Welt zum Superstar geworden war. Bis dahin war es für den jungen Rostocker stetig bergauf gegangen, Ullrich stand sinnbildlich für schiere Kraft, ein rothaariger Siegfried. Nichts deutete darauf hin, dass sich dies nun ändern würde – zumal Ullrich bereits früh wieder ins Gelbe Trikot gefahren war.

Gut, die Tour 1998 stand per se unter einem schlechten Stern, der Festina-Skandal mit täglich neuen Volten und Enthüllungen in Sachen Doping verwandelte die ruhmreiche Rundfahrt in eine Schmierenkomödie. Und dann kam diese verfluchte Alpenetappe, kam der verfluchte Galibier.

Ullrich, der stets heiße Temperaturen bevorzugte, hatte auch im lausigen Wetter weit in den Anstieg dieses über 2 600 Meter hohen Tour-Riesen mit seinen Helfern Bjarne Riis und Udo Bölts alle Angriffe pariert. Doch dann attackierte Pantani, jener italienische Radsport-Rebell mit dem Piratentuch, dieser Pantani, dem immer etwas Ungehobeltes anhaftete. Und Ullrich? Reagierte nicht, konnte nicht, blieb ohnmächtig im Sattel sitzen. Bis zur Passhöhe hatte Pantani im strömenden Regen fast drei Minuten herausgefahren, Ullrich beging Fehler, die ihm zum Verhängnis wurden.

Zwei Stunden Badewanne

Pantani ließ sich vor der Abfahrt eine wärmende Jacke reichen, Ullrich nicht. Pantani aß, Ullrich nicht. Ein Defekt kurz vor dem Schlussanstieg tat sein übriges: Es wurde ein Drama. „Es war kalt, es hat geregnet – mein Zuckerspeicher war leer“, erzählte Ullrich, der Les Deux-Alpes mit neun Minuten Rückstand erreichte, nach vielen Jahren Abstand. Er gestand: „Ich war oben so kaputt, dass meine Betreuer mich auf dem Rad zum Hotel schieben mussten. Dort haben sie meine Finger vom Lenker gelöst, mich ins Zimmer geschleppt und ausgezogen. Danach legten sie mich zwei Stunden lang in die Badewanne und fütterten mich.“

Einen Tag später gewann er immerhin die Alpenetappe nach Albertville, am Ende wurde Ullrich Tour-Zweiter. Den Nimbus der Unbesiegbarkeit aber hatte er eingebüßt. Anstatt wie von ihm fast schon verlangt eine Ära zu prägen, trug er nie wieder das Gelbe Trikot, gewann nie wieder die Frankreich-Rundfahrt.

Sicher, Ullrich wurde Vuelta-Sieger 1999, holte Olympiagold 2000. Schlagzeilen machte er aber vor allem mit Gewichtsproblemen, privaten Eskapaden und seiner endlos-unsäglichen Dopinggeschichte. Die Zweifel, die jener schwarze Tag in den Alpen weckte, zogen sich durch ein ganzes tragisches Sportlerleben. (sid)