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Der Bayer vom Ehrenhain

Ein junger Historiker erklärt jetzt Besuchern die Gedenkstätte. Die Liebe fürs Landleben hat ihn nach Sachsen gebracht.

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© Lutz Weidler

Von Christoph Scharf

Zeithain. Der junge Mann mit dem Pferdeschwanz hat eine Frage: „Weiß jemand, wer Stalin war?“, will Konstantin Wiesinger von den Schülern wissen. Die Achtklässler am Gedenkstein im Ehrenhain Zeithain murmeln. „Ein Russe?“, fragt einer. „Ein böser Mensch?“, der nächste. „Ein Machthaber?“, der dritte. Ziemlich genau, sagt der Historiker: „Stalin war ein Diktator.“

Als Stalin herrschte, wurde dieser Teil der Gedenkstätte angelegt, erklärt Konstatin Wiesinger. Und deshalb ist auf dem Stein aus dem Jahr 1948 auch nicht die Rede von umgekommenen Kriegsgefangenen – von denen Tausende im Umkreis des einstigen Gefangenenlagers ruhen. Stattdessen fordert der Stein Ruhm und Ehre für die „Kämpfer gegen den Faschismus“. Das ist ein wichtiger Unterschied, erklärt Konstatin Wiesinger den Schülern der Stauchitzer Oberschule. „Für Stalin waren kriegsgefangene Rotarmisten Verräter, für die man sich zu schämen hatte.“ Nach der Befreiung durch die Rote Armee habe deshalb auf manche die Erschießung, auf manche ein neues Straflager gewartet.

„Stellt euch vor, euer Opa stirbt und wird begraben – und sein Name ist nirgendwo zu finden, nur ein anonymer Stein“, sagt der Historiker zu den Schülern. Damit es den Angehörigen der Toten von Zeithain nicht mehr so geht, wurden 2013 Tafeln auf dem Areal nahe der B 169 aufgestellt. Sie tragen endlose Namenslisten und Sterbedaten. Manche der Toten haben sogar wieder ein Gesicht, weil Angehörige emaillierte Fotos mitbrachten und im Ehrenhain oder auf den Friedhöfen in Zschepa oder Jacobsthal anbrachten. „Hier in Zeithain findet man heute verschiedene Formen des Gedenkens“, sagt Konstantin Wiesinger – von der Stalinzeit bis zur Gegenwart. Das hat der 30-Jährige am Freitag den Achtklässlern von der Anne-Frank-Oberschule nahegebracht – und wird ab sofort einmal pro Monat auch mit allen anderen Besuchern darüber ins Gespräch kommen. Die Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain hat den Bayern für die öffentlichen Führungen engagiert, die einmal im Monat am Sonntag stattfinden. Dabei kann man von einem echten Glücksfall sprechen: Denn Konstantin Wiesinger – der in München aufwuchs und in Wien studierte – ist nicht des Berufs wegen nach Sachsen gewechselt. „Meine Frau und ich haben eine Gelegenheit gesucht, unseren Traum vom Leben auf dem Land zu verwirklichen.“ Und so haben sich die beiden in einem 50-Einwohner-Dorf bei Leisnig einen denkmalgeschützten Vierseithof gekauft, den sie nun Stück für Stück restaurieren. „Für so einen Hof hätte man in Oberbayern 800 000 Euro gezahlt“, sagt Wiesinger. Hier in Sachsen gebe es viel einfacher Gelegenheiten, seinen Traum in die Tat umzusetzen.

Dafür warten auch nicht an jeder Stelle Arbeitsgelegenheiten für Historiker. Wiesinger arbeitet deshalb derzeit hauptberuflich als Produktionsmitarbeiter bei Sachsenobst, wo er Bäume verschneidet und den Boden mulcht. Außerdem ist er nebenbei noch für das Staatsarchiv in Wermsdorf tätig, wo es Dokumente zu digitalisieren gilt. In Zeithain dagegen steht jetzt die Arbeit mit Menschen im Mittelpunkt. Die Premiere hat der 30-Jährige nun schon erfolgreich absolviert.

Die Gedenkstätte bietet ab sofort bis Oktober öffentliche Führungen an. Jeden ersten Sonntag im Monat um 14 Uhr führt Konstantin Wiesner über das Areal.