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Der Tod kommt per Post

Niederländer können sich für 180 Euro Medikamente für einen Weg aus dem Leben bestellen. Immer mehr Menschen wollen das.

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© AP/Thomas Kienzle

Von Detlef Drewes, SZ-Korrespondent, zzt. Den Haag

Mareike ist tot. Das stand schon seit einigen Tagen fest, seitdem das Sterben der 74-jährigen Niederländerin vorbereitet worden war. „Sie kann nicht mehr“, sagte ihr Mann Hendrijk (79) am Telefon und wurde ganz still, als er hinzufügte: „Ich halte gerade ihre Hände.“ Vor fünf Jahren gab es die ersten Anzeichen von Demenz. „Die Krankheit griff nach ihr“, erzählte er weiter. „Ich bin nicht mehr die, die ich war“, habe sie immer wieder gesagt und geweint – in den wenigen Augenblicken, in denen sie noch „wach“ war, und ihre Familie erkannte. Das letzte Mal dürfte Wochen her sein. In einem dieser Momente sprach sie erst mit ihrem Mann, dann mit den Kindern und schließlich mit dem Hausarzt. „Ich habe kein Leben mehr, bitte lasst mich gehen“, sagte sie immer wieder. In diesen Tagen ist sie gegangen. Mit Hilfe ihres Arztes.

Mareike ist eine von jenen deutlich über 6 000 Patienten, die in den Niederlanden derzeit im Jahr aus dem Leben scheiden. Die Zahlen explodieren regelrecht – zwischen 2012 und 2017 stiegen sie um 67 Prozent. Allein im Vorjahr waren es 38 Prozent mehr als noch 2016, die in einer der Lebensende-Kliniken Hilfe zum Sterben suchten. Für Berna van Baarsen zu viel. Die Medizinethikerin gehörte einem der landesweit fünf Gremien an, die Anträge auf aktive Sterbehilfe prüfen müssen. Im Januar dieses Jahres trat sie zurück.

Der Jahresbericht der Regionalen Kontrollkommission für Sterbehilfe belegt: Derzeit sind es 17 Niederländer, die jeden Tag auf eigenen Wunsch aus dem Leben scheiden. „Die Dämme brechen“, beklagten vor einem Jahr 200 niederländische Ärzte in einer gemeinsamen Erklärung. „Unsere moralische Abneigung, das Leben eines wehrlosen Menschen zu beenden, ist groß“, heißt es darin. Ihr Vorwurf: Vor allem die Zahl der Demenzpatienten, die den Tod suchen, steige „eklatant“ an. Es handelt sich dabei um jene, die eine zentrale Voraussetzung des Gesetzes nicht mehr erfüllen können: die freie, eigenverantwortliche Entscheidung für den Tod.

Seit einigen Monaten wird bei unseren Nachbarn ein Fall vor Gericht verhandelt, bei dem ein Arzt einer Frau die Todesspritze auf Bitten des Pflegeheims verabreicht hatte. Und die Entwicklung geht weiter. Die Niederländische Vereinigung für ein Freiwilliges Lebensende (NVVE) will die gesetzlich geforderte Mitwirkung der Mediziner zurückfahren, weil sich zunehmend mehr Ärzte weigern, die Todesspritze zu setzen. Außerdem fordern die Befürworter einer weiteren Liberalisierung die Zulassung einer Todespille.

Bestellen können die Mitglieder der „Kooperation letzter Wille“ das Präparat schon jetzt: 180 Euro kosten zwei Gramm eines tödlichen Medikamentes – samt Mini-Safe zur sicheren Aufbewahrung. An eine weitergehende Legalisierung ist aber nicht zu denken: Im Kabinett von Premierminister Mark Rutte sitzt die Christenunion mit am Tisch, die weitere Schritte verhindern will.

2001 legalisierten die Niederlande als erstes Land weltweit die aktive Sterbehilfe. Wenig später folgten Luxemburg und Belgien, wo es vergleichbare Trends gibt. Die aktive Sterbehilfe – die in den Niederlanden offiziell „Euthanasie“ heißt – bleibt strafbar, wenn sie nicht von einem Arzt unter strengen Auflagen vorgenommen wird. So muss sich der Mediziner „von der Freiwilligkeit und dem Ernst des geäußerten Sterbewunsches seines Patienten überzeugen“. Hinzu kommt, dass ein unerträgliches Leiden vorliegen sollte, für das es keine Besserung und keine andere Abhilfe gibt. Inzwischen gelten die Sterbe-Regeln auch für Minderjährige, bei denen die Eltern allerdings mitzuentscheiden haben.

„Wenn es irgendwelche Tabus gibt, sind diese längst weg“, bestätigt Steven Pleiter, Chef der Lebensende-Klinik in Den Haag. „Immer mehr Menschen haben eine klare und ausdrückliche Meinung davon, wie sie ihr Lebensende gestalten wollen. Ich erwarte ein sichtliches Wachstum in den kommenden Jahren.“ Die Motive, so beschreibt der Klinik-Chef weiter, seien unterschiedlich. Da gebe es den 79-jährigen Siep, der sein Gift trank, um dem Schicksal zu entgehen, das seine Mutter ereilte: Demenz. Und da seien eben auch Menschen wie der Patient mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung, der sich täglich selbst verstümmelte und von einer „lebenslangen Hölle“ befreit werden wollte.

Professor Theo Boer, einer der wichtigsten Ethiker und Vertreter der skeptischen Linie in den Niederlanden, warnt nicht vor solchen Fällen, sondern vor dem Trend: „Am Anfang handelte es sich bei 98 Prozent um sterbenskranke Menschen mit wenigen verbleibenden Lebenstagen. Diese Zahl ist mittlerweile geschrumpft auf 70 Prozent.“ Andere berichten, dass auch „junge Personen bereits mit 30 oder 40 mit ihrem Hausarzt über Euthanasie reden.“

Viele treibe die Angst vor späterer Demenz um – verbunden mit dem Risiko, dann nicht mehr selbst entscheiden zu können. Dabei war es ausgerechnet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der nicht zur EU gehört und der in einem wegweisenden Urteil vor einigen Jahren die Tür zum Sterbewunsch auch für solche Patienten geöffnet hatte. Es ging damals um die Frage des 38-jährigen Franzosen Vincent Lambert, der nach einem Unfall im Koma lag. Die Ehefrau und Eltern stritten sich, ob die Geräte abgeschaltet werden dürfen. Der Menschenrechtsgerichtshof entschied: Sie dürfen – allerdings lebt Lambert noch immer.

Die Grundsätze des Urteils haben viel verändert: „Es ist der Patient, der im Mittelpunkt der Entscheidung steht. Das gilt auch dann, wenn der Betreffende nicht mehr in der Lage ist, seinen eigenen Willen auszudrücken oder keine schriftliche Willensäußerung von ihm vorliegt.“ Somit müssten die staatlichen Stellen zusammen mit den Ärzten und der Familie aus früheren Bekundungen des Patienten dessen Willen herausfinden. Ein Urteil, das wie Wasser auf die Mühlen der Sterbehilfe-Befürworter in den drei Benelux-Staaten wirkte.

So begründet auch Robert Schurink, Direktor der NVVE-Vereinigung für ein Freiwilliges Lebensende, seinen Vorstoß für mehr Öffnung mit dem strikten Hinweis auf den Willen des Betroffenen. Die Forderung, die Rolle der Mediziner zurückzufahren, sei eine Konsequenz aus der Tatsache, dass manche Patienten gerne ihr Leben beenden wollten, aber keinen Hausarzt hätten, der ihren Wunsch erfüllen könne oder wolle. In diesem Fall bekommen Sterbewillige bereits heute Tipps und Ratschläge, wie und wo sie tödliche Mittel im Ausland bestellen können. Beihilfe zum Suizid ist auch in den Niederlanden strafbar, nicht aber die Beratung. Um den Griff zur Todespille noch einfacher zu machen, will die „Kooperation letzter Wille“ nun sogar regelrechte Einkaufsgemeinschaften bilden, um geeignete Sterbemittel zu kaufen. Das passt zu dem politischen Vorstoß, aktive Hilfe zum Tod nicht nur bei Krankheiten zu erlauben, sondern auch bei Menschen, die schlicht lebensmüde seien.

Professor Lukas Radbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, warnte bereits vor zwei Jahren vor „Alarmzeichen“ einer gesellschaftlichen Entwicklung, bei der Sterbehilfe immer breiter akzeptiert werde. Betreiber einschlägiger Blogs im Internet berichten, dass Veröffentlichungen über die Sterbehilfe-Szene regelmäßig zu Anfragen von Deutschen führten, was man tun müsse, um im Nachbarland sterben zu dürfen. Da führt aber kein Weg hin. Die dortigen Sterbehilfe-Regelungen gelten allein für jene, die im Land leben und krankenversichert sind.

„Aber das Leiden derer, die freiwillig gehen möchten, hält sich nicht an Grenzen“, lautet ein Eintrag im Internet von einem Deutschen, der sich selbst als „79-jähriger Todeskandidat“ vorstellt und so gerne seinen „täglichen Qualen ein Ende setzen möchte“. Er hat den Satz dazu gesetzt: „Auch im Sinne all derer, die ich so sehr liebe und denen ich nicht länger zur Last fallen will.“ Doch die liberalen Regelungen in den Benelux-Staaten sind einzigartig in Europa. Dieser Konsens zwischen Palliativmedizinern und Gesetzgebern steht außer in der Schweiz auch in keinem anderen Land zur Diskussion.

Fast überall wird genau jener Dammbruch befürchtet, der in den Niederlanden eingesetzt hat: Dort wurden im Vorjahr rund 400 Betroffene ohne ausdrückliche eigene Zustimmung getötet. Und niemand weiß genau, ob die gesetzlichen Kriterien wirklich in allen Fällen erfüllt waren. „Wir winken heute Fälle durch, die wir noch vor einigen Jahren nicht gestattet hätten“, warnte schon 2015 der Vorsitzende der nationalen Sterbehilfe-Kommission Belgiens, Wim Distelmans. Dort entwickeln sich die Zahlen ähnlich wie in den Niederlanden. Und eine Erklärung dafür sucht man bisher vergeblich.