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Der Zorn ist verraucht

Außer FKK gab es in der DDR nur Tabus, sagt der Schriftsteller Hans Kromer. Heute aber gibt es davon viel zu wenig.

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© René Meinig

Von Ulf Mallek

Der Mann ist hochgewachsen, drahtig-schlank und braun gebrannt. Er trägt eine blaue Jeanshose kombiniert mit einem lässigen Jeanshemd. Der Mann strahlt Energie aus, Dynamik, auch Güte und Altersmilde. Der Zorn auf die Welt ist verraucht. Ein vielleicht etwas altmodischer (oder ist das jetzt schon wieder modern?) Schnurrbart ziert seine Oberlippe. Der Bart ist weiß, das noch recht füllige Haupthaar ebenfalls. Allein dieses Weiß verrät das schon recht fortgeschrittene Alter des Schriftstellers. Hans Kromer ist dieser Tage 80 Jahre alt geworden.

Sein Lieblingscafé ist das Café Schwarzmarkt in der Dresdner Neustadt. Er hat diesem Haus in seinem neusten Buch „Schlaflose Nächte“ sogar eine eigene Geschichte gewidmet. Mittags trinken hier vor allem Banker, Immobilienhändler oder Beamte ihren Cappuccino, nachmittags dominieren es Nichtstuer, Künstler, Voyeure und Touristen und abends die Verliebten. „Ich bin gern hier“, sagt Kromer. „Vor allem wegen der ausliegenden Zeitungen.“ Ein Hauch von Wien in der Neustadt.

Kromer stammt aus Döbeln. Als Kind rannte er barfuß über die Wiesen, spielte im Wald, sprang von Brücken und holte Steine aus der Mulde. „Wir wuchsen naturnah auf“, sagt er. Ein paar Jahre später sprintete Kromer über 110 Meter Hürden in 14,5 Sekunden. Das war die viertbeste Zeit in der DDR. Der Weltrekord freilich lag noch sehr fern: 13,2 Sekunden.

Sport und Bewegung waren immer wichtig in seinem Leben. Er arbeitete als Sportlehrer an der Dresdner Kunstakademie. Berühmte Maler wie Hubertus Giebe oder Jürgen Wenzel waren seine Schüler und sind heute noch Freunde. Kromer hat viele Jahre einen eigenen Dresdner Kunstkalender herausgebracht und beinahe hätte ihm A. R. Penck, der damals noch Ralf Winkler hieß, ein heute vielleicht 100 000 Euro teures Bild seiner damaligen Freundin für 50 DDR-Mark verkauft. Aber nur beinahe. Selbst malen war aber nicht Kromers Ding.

Kromer zog es schon als junger Lehrer hin zu den Buchstaben, zur Literatur, vor allem zur Lyrik. Manche sagen, Kromer sei ein begnadeter Lyriker. Schade, dass er nicht mehr davon schreibe. Seine Antwort: „Lyrik setzt eine bestimmte Naivität und Lebensbegeisterung voraus. Die habe ich einfach nicht mehr.“ Insgesamt habe er sicher schon 500 oder 5000 Gedichte geschrieben, bloß die wichtigsten davon wurden gedruckt.

Kromer hat zwei Romane veröffentlicht, zwei Kurzgeschichten-Bände, eine Dokumentation über die friedliche Revolution in Dresden und einen Gedichtband. Einige davon in seinem eigenen kleinen Verlag. Alles aber erst nach der Wende, da war er schon 52 Jahre alt. „In diesem Alter ist es als Newcomer schwer, die Verlage von sich zu überzeugen.“ Er hätte schon gern früher mehr veröffentlicht, aber dafür legte er sich zu stark mit der Obrigkeit in der DDR an. Was er wirklich schreiben wolle, hätte niemand gedruckt. Kromer vermisste damals vor allem Freizügigkeit, Freiheit und Weltoffenheit. Und heute? Da ist es ganz anders. Kromer: „In der DDR gab es, außer FKK, nur Tabus. Heute gibt es fast gar keine Tabus mehr, das ist auch nicht gut.“

Wenn alles erlaubt ist, dann besteht die Gefahr, dass die Freiheit missbraucht wird. Trickserei in der Wirtschaft, in der Politik, zu wenig Kontrolle, zu wenig Interesse an Veränderung. Das Aufkommen von Pegida und AfD sind vielleicht auch damit zu erklären. Kromer zitiert aus einem Gedicht von Ingeborg Bachmann, seinem literarischen Vorbild: „Ich halte den Kurs, den keiner mehr weiß.“

Hans Kromer als eine Art Seher, der alles besser weiß? Nein, das nicht, sagt er. Doch er denke, jetzt endlich erkannt zu haben, worauf es ankommt im Leben. Und das sei doch die vornehmste Pflicht eines Literaten, nämlich seinen Lesern zu erklären, was der Sinn des Lebens ist. Man stelle sich ein gleichschenkliges Dreieck vor. Es besteht aus den Komponenten Körper, Intellekt und Psyche. Wenn alle drei gleich lang sind, lässt sich ein Kreis darum schlagen und der Ball ist rund und kann losrollen. Ist eine drei Komponenten zu kurz, dann rollt es nicht richtig.

Der Sinn des Lebens ist loszurollen? „Ja“, sagt Kromer. „Ist besser, als nichts tun.“ Als Sportler weiß er aber auch um die Gefahren der Rollerei. In seinem Romanerstling aus dem Jahr 2004 „Die Verletzung“ hat er darüber geschrieben. Der Wechsel ist wichtig. Der Wechsel von Gehen, Steigerungslauf, Traben und Tempolauf. Spannung und Entspannung. Wer das nicht beachtet, kann aus der Bahn geworfen werden.

Leistungssport und seine Methoden waren in der DDR ein Tabu-Thema. Deshalb konnte Kromer, wie er sagt, erst nach der Wende darüber schreiben. Manchmal, sagt er, kam es ihm so vor: Leistungssport ist wie Faschismus. Sein Verletzungspech sieht er im Nachhinein nicht mehr als Unglück. Heute macht er sich allerdings Sorgen, dass die Bewegung zu kurz kommt. Die Kinder gehen nach der Schule oft nicht raus spielen oder ins Freibad, sondern sitzen am Rechner oder an der Playstation. Die Digitalisierung dringt immer tiefer in unser Leben ein. Sie verändert alles, auch die Kunst. In der Malerei, sagt Kromer, werden die Farben schon blasser und kälter. Das habe er beobachtet. Die Dresdner Malschule war immer dicht dran an der Natur, doch jetzt beginnt sich etwas zu transformieren. „Natürlich malt Hubertus Giebe immer noch so großartig wie früher“, sagt Kromer. Aber bestimmte Künstler merken, dass sich der Geschmack der Käufer und Sammler verändert.

Kromer hat über die Literatur, Musik und bildende Kunst zur Philosophie gefunden. Er spricht gern Sätze wie diese: „Kunst hat die Aufgabe, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Kunst ist nicht nur Gefühl, sie ist auch Analyse.“ Und die Philosophie ist nach Kromer die Summe von allem.

Kromer wohnt in Dresden in einem großen innerstädtischen Neubaublock. Die Natur schrumpft um ihn herum in der Stadt. Er findet ein Gleichnis für diesen Zustand. „Früher war ich gern auf dem schönen Rasenplatz der TU Dresden. Jetzt ist er verschwunden. Statt sich die studentische Jugend dort bewegt, geht sie wie ich – der alte Mann – in die Bibliothek.“

Sein jüngstes Buch ist gerade mal 100 Seiten dick, es hat ihn aber viele Nerven gekostet. „Ich habe es selbst verlegt, weil ich nicht mehr so viel Zeit für den Planungsvorlauf in den Verlagen habe“, sagt Kromer. Es sind 22 Miniaturen, bildhafte Stücke aus oder über Dresden. Die Presse hat den Band sehr wohlwollend besprochen. Man lädt Kromer zu Lesungen ein. Sein Buch habe die Produktionskosten bereits wieder eingespielt, sagt Kromer. Eine ganze Menge Bücher habe er auch verschenkt. Insbesondere an viele alte Freunde, Weggefährten und Käufer seiner Bücher. „Ich habe das Gefühl, ich muss ihnen allen – wie auch der Stadt – jetzt einmal etwas zurückgeben.“

Der Kellner kommt kassieren. Kromer wohnt um die Ecke. Die Sonne scheint. „Ich fühle mich wohl hier in dem Viertel. Es ist lebendig.“ Und Kromer fällt wieder ein Zitat von Ingeborg Bachmann ein: Nichts Schönres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein ...

Hans Kromer „Schaflose Nächte. Dresdner Miniaturen“. Multi Media Kunst Verlag Dresden. 14,80 Euro.

www.multi-media-kunst.de