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Dicke da!

Dynamo wächst immer weiter. Unter den 22 300 Mitgliedern gibt es auch einige Schwergewichte. 20 kämpfen jetzt gegen die Kilos, und Ralf Minge hilft.

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© Thomas Kretschel

Von Tino Meyer

Der Sportchef persönlich ist da, drahtiger denn je und damit der personifizierte Gegenentwurf. Und doch passt Ralf Minge perfekt in diese dicke Dynamo-Runde – 20 Männer mit zusammengerechnet weit über 2 000 Kilogramm Körpergewicht. Sie sind Teil des aus Schottland stammenden Projekts „Fußballfans im Training“, einem zwölfwöchigen Kurs mit dem Ziel, gesünder zu leben und Gewicht zu verlieren.

Inzwischen sind sechs Wochen rum, nun ist Halbzeit – und das Vereinsidol zu Besuch. Der Trainer Holger Hums, der sich sonst um Dynamos U 15 kümmert, hat ihn eingeladen, als Motivation sozusagen.

Sehr skeptisch sei er gewesen, entgegnet Minge, als er zum ersten Mal vom Projekt gehört hat – was ihn wiederum mit einigen der Teilnehmer verbindet. Sich darauf einzulassen und anzumelden, kostet Überwindung. Voraussetzung ist die Dynamo-Mitgliedschaft, worauf man noch stolz sein kann. Am Kurs teilnehmen sollen jedoch ausschließlich die Schwergewichtigen mit einem Bauchumfang von mindestens 100 Zentimetern und einem BMI von mehr als 28.

„Hier geht wirklich was los“

Zum Vergleich: Minge liegt bei dem gern genommenen Index, der sich aus dem Körpergewicht dividiert durch das Quadrat der Körpergröße errechnet, bei 26. Leichtes Übergewicht also – was man ihm nicht ansieht, genauso wenig wie den anfänglichen Argwohn. „Nach der Skepsis kamen die Live-Berichte von Holger, und mir war klar, hier geht wirklich was los. Dafür spricht allein schon, dass alle 20 Mann immer noch dabei sind und dass das Gewicht bei allen nach unten geht. Das fordert ganz einfach Respekt ab“, sagt Minge – und lässt damit dicke Männer wie kleine Kinder strahlen.

Auch der Trainer ist zufrieden. „Die Halbzeit erreicht zu haben, ist eine große Errungenschaft. Ihr könnt stolz auf euch sein. Glückwunsch, Männer“, sagt Holger Hums, und fast noch mehr freut ihn, wie die Dicken den Kurs leben.

Eine eigene WhatsApp-Gruppe gibt es, dazu kleine Wettstreite untereinander, wer täglich mehr unterwegs ist, die typischen Frotzeleien natürlich – und das Spiel gegen Aue. Hums, außerdem bei Heimspielen für die Ballholer verantwortlich, hat dafür gesorgt, dass im Duell gegen den Erzrivalen ausnahmsweise die XXL-Mitglieder am Spielfeldrand dabei sind – und nicht der Nachwuchs des Vereins. Allein dafür, Kilos hin oder her, hat sich für die allermeisten das Projekt schon gelohnt.

Minge weiß das, bringt die Männer aber für einen Augenblick ins Schwitzen mit seiner Erklärung, warum es im Sachsenderby vor zwei Wochen trotz halbstündiger Überzahl nur zu einem 1:1 gereicht hatte. „Wir haben das mit dem Trainer noch analysiert“, sagt er und beginnt zu grinsen. „Dabei haben wir eindeutig festgestellt: Die Ballholer waren nicht schnell genug ...“

Alles lacht, und doch sind weder dieser Abend eine reine Spaßveranstaltung noch die Tage zwischen den Kursen ein Vergnügen. Wer mehr Lebensqualität haben will, muss zu Veränderungen bereit sein. Auch darüber spricht Minge, und auch das könnte kaum einer authentischer rüberbringen.

„Meine Geschichte ist ja bekannt“, sagt er und meint die Zwangspause als Sportgeschäftsführer von Februar bis August. Ärzte hätten ihm klargemacht, dass er sich verändern muss. Und zwar sofort! „Im Laufe des Lebens fallen solche Veränderungen immer schwerer. Schock oder Druck sind eigentlich die einzigen Dinge, die zu einer echten Veränderung führen. Deshalb“, sagt er, „steht ihr jetzt vor der größten Herausforderung. Ihr müsst dranbleiben.“

Allerdings nicht so wie Minge das im Frühjahr für sich interpretiert hatte. Weil Bewegung gut ist, sei es ihm ausschließlich darum gegangen, entweder weiter unterwegs zu sein als am Vortag oder schneller. „Doch das ist gar nicht der Punkt. Ausschlaggebend ist Kontinuität“, sagt Minge.

Aus persönlicher Erfahrung – längst ist es mucksmäuschenstill im Raum – arbeite er am liebsten mit Zukunftsbildern verbunden mit einer Vorstellung: Wo will ich hin? „Ihr wollt mehr Lebensqualität, die mit Ernährung verbunden ist, mit Bewegung und dem Körpergewicht. Sich das immer wieder vor Augen zu halten, ist ein ganz wichtiges Element“, sagt Minge und zitiert, das macht er gerne, wieder Gelehrte und Weise. Diesmal ist es Katharina von Siena, eine italienische Mystikerin aus dem Mittelalter: „Nicht das Beginnen wird belohnt, sondern das Durchhalten“, hat sie gesagt. Das seien die Momente, ergänzt Hobby-Philosoph Minge, in denen es manchmal eng wird: „Dort trennt sich die Spreu vom Weizen. Dann geht es ans Eingemachte.“

Die ersten Schritte, und das ist an dieser Stelle mehr als wörtlich zu nehmen, sind aber getan. Konkret: 1 115 245 Schritte. So viele Schritte haben die 20 Kursteilnehmer insgesamt binnen einer Woche gemacht. Imposant sind auch die Kilos, die bis Kurs-Halbzeit in der Gruppe gepurzelt sind: zusammen exakt 74,7. Minge ist gleichermaßen erstaunt wie begeistert. Sichtlich angetan entfährt es ihm: „Ein ganzer Mensch“ – oder eben ganz viele Sandsäcke.

Die gibt es zur Veranschaulichung für jeden Kursteilnehmer gefüllt mit jener Menge Sand, die derjenige an Gewicht bereits verloren hat. Einer hat besonders schwer zu tragen: 9,5 Kilogramm, abgenommen in sechs Wochen.

100 Kilo sind nicht gleich 100 Kilo

Auch da taugt Minge zum Vorbild und berichtet, dass er nach der Auszeit sein altes Wettkampfgewicht wieder erreicht hat, runter von 100 auf 89 Kilo – verteilt auf 1,85 Meter.

Zu Karrierebeginn bei Dynamo im Sommer 1980 sind es gar nur 83 Kilo gewesen, wobei Minge in Dresden vorrangig Muskelmasse zugelegt hat. Wirkliche Gewichtsschwierigkeiten kennt er aus aktiven Zeiten höchstens von der Sommerpause – und bestenfalls noch in Woche eins nach dem Urlaub. „Aber als Problem kann man das im Vergleich zu heute nicht bezeichnen“, relativiert der 58-Jährige.

Das Gewicht allein, betont er, ist letztlich auch nicht entscheidend. Das dürfe man nicht isoliert betrachten, zumal die konstitutionellen Voraussetzungen mitunter grundverschieden sind. 100 Kilo sind zwar 100 Kilo, aber die Konsequenzen für jeden Körper individuell und anders.

Minge ermutigt die Männer, auf ihrem Weg weiterzumarschieren – und er kündigt eine Neuauflage des Projekts an. „Das ist nicht zuletzt auch ein Stück Vereinskultur, die wir hier zusammen leben“, betont der Sportchef.

Als am Ende noch Zeit für Fragen bleibt, will es einer ganz genau wissen. „Herr Minge“, setzt René aus der ersten Reihe an – doch er kommt nicht weiter. „Mingus oder Ralf, bitte“, entgegnet Minge und hat auf die Nachfrage, ob es denn dann auch mal einen Kurs für XXL-Mitgliederinnen gibt, eine schlagfertige Antwort parat. „Ganz bestimmt, aber du hast doch mehr an einen gemischten Kurs gedacht, oder?“