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Die andere Art, geboren zu werden

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Kommentare und Analysen zu aktuellen Themen.Heute: Sven Hildebrand, Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Dresden und Mitbegründer der Hebammenpraxis Dresden-Bühlau, zur Tatsache, dass mittlerweile jedes fünfte Kind in Sachsen per Kaiserschnitt geboren wird.

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Von Sven Hildebrandt

Die Geburt dürfte eine der bedeutsamsten, aufregendsten und großartigsten Erfahrungen im Leben eines Menschen sein. Auch wenn sich kaum jemand an diese Sternstunde seiner Biografie zu erinnern vermag, gehen doch immer mehr Experten von einer überragenden Bedeutung dieses Lebensmomentes für die weitere Entwicklung des Kindes aus. Immerhin bemessen wir alle unser Lebensalter nicht nach dem Beginn unseres Lebens, sondern nach dem Tag unserer Geburt. Und wir feiern nicht unseren Befruchtungs-, sondern unseren Geburtstag. Der Übergang von der Lebenswelt im Mutterleib in das extrauterine Leben ist ein archaischer Augenblick – für die Mutter wie für das Kind.

Bei Geburt ist Geschick gefragt

Leider ist die Geburt auch eine gefahrvolle Lebensphase, wenn auch – davon bin ich fest überzeugt – lange nicht die gefährlichste. Das besondere Geburtsrisiko des Menschen liegt in der durch den aufrechten Gang bedingten Statik des mütterlichen Beckens begründet. Menschenkinder werden im Vergleich zu anderen Säugetieren wesentlich unreifer geboren und müssen sich bei ihrer Geburt viel geschickter anstellen – aber schließlich beanspruchen wir ja auch den Rang eines „höheren Wesens“.

Seit alters her haben Hebammen und Ärzte nach Wegen gesucht, die Sicherheit der Geburt zu erhöhen. Seit mehr als dreihundert Jahren steht hierfür auch eine Methode zur Verfügung, bei der das Kind durch die mit einer Operation eröffneten Bauchdecken der Mutter geboren wird: der sogenannte Kaiserschnitt oder lateinisch die „Sectio caesarea“.

Der Name der Operation verleitet zur Mythenbildung. Kein römischer Kaiser – und schon gar nicht Julius Caesar – wurde auf diese Weise geboren. Und doch geht der Ursprung des Namens und letztlich auch der Technik auf das römische Recht im sechsten vorchristlichen Jahrhundert zurück, wonach eine tote Schwangere nur getrennt von ihrem Kind beerdigt werden durfte. Bald nahm man das „Herausschneiden“ des Kindes nicht erst bei der bereits gestorbenen, sondern schon bei der Sterbenden vor, um möglicherweise wenigstens das Kind zu retten. Auf solche überlebenden Kinder geht der Namensursprung „Cäsar“ („der aus dem Mutterleib Geschnittene“, von caedere = herausschneiden) und daraus das deutsche Wort „Kaiser“ hervor.

Hohe Risiken bei Operation

Klar ist, dass die Operation lange Zeit den sicheren Tod der Mutter bedeutete und deshalb höchst selten zur Anwendung kam. Immerhin stammt der erste Bericht einer überlebenden Mutter bereits aus dem Jahre 1500. In Deutschland begann sich die Technik im 17. Jahrhundert zu verbreiten. Aber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren die Risiken der Operation für die Mutter so hoch, dass sich die Ärzte nur selten dafür entschieden.

Die Wende in der Risikobeurteilung des Kaiserschnittes und hin zum heute fast inflationären Gebrauch der Methode geht auf die Verbesserung der Narkose- und Operationstechnik und vor allem auf Entwicklung der Infektionslehre und der Antibiose zurück. Starben vor hundert Jahren noch drei von vier Frauen infolge des Kaiserschnittes, so ist es heute „nur“ noch eine auf 25000.

Die Kaiserschnittrate liegt in Deutschland gegenwärtig knapp unter dreißig Prozent und ist im letzten Jahrzehnt um gut zehn Prozent angestiegen. Und diese Tendenz hält unvermindert an. Staunten wir noch vor kurzem über abenteuerlich erscheinende Zahlen aus den USA und über Berichte aus brasilianischen Privatkliniken mit Kaiserschnittraten von 70 Prozent, so erleben wir heute auch hier in Deutschland aus sehr verschiedenen Gründen einen ähnlichen Trend bis hin zu entsprechend spezialisierter Geburtseinrichtungen.

Ärzte müssen generell die Risiken der Operation mit den Risiken der Spontangeburt abwägen. Bei gesunden Schwangeren reden wir bei beiden Strategien von sehr kleinen Risiken. Aber es gibt Erkrankungen und Situationen, bei denen diese Abwägung eindeutig zugunsten des Kaiserschnittes ausfällt. Bei einem schwangerschaftsbedingten Leberversagen oder bei einer Querlage des Kindes kann nur die Operation Mutter und Kind retten. In dieser Frage besteht weltweit Konsens.

Viele Schwangere verunsichert

Anders liegen die Dinge bei weniger eindeutigen Situationen wie beispielsweise der kindlichen Steißlage, bei der nicht das Köpfchen, sondern der Po des Kindes zuerst geboren wird. Viele sehen darin eine für das Kind gefährliche Regelwidrigkeit und raten fast immer zur Kaiserschnittgeburt. Andere sprechen von einer Formvariante der normalen Geburt und kritisieren, dass Schwangere scharenweise pathologisiert und verängstigt werden. Tatsächlich wird diese fachliche Debatte leider oft auf dem Rücken der Schwangeren ausgetragen, die dann nicht selten zum vermeintlich sichersten Weg für ihr Kind greifen: dem Kaiserschnitt.

Aber ist dieser Weg tatsächlich immer sicherer und besser als die Spontangeburt? Ein Argument für den Kaiserschnitt ist für viele, dass die Frau Belastungen und Schmerzen der Geburt auf diese Weise umgehen kann. Ich halte es für unzureichend, die Gesamtdimension der Geburt auf den Schmerz zu reduzieren und die Schmerzen, Einschränkungen und Gefahren in der Zeit nach der Operation bis hin zur nächsten Schwangerschaft und Geburt zu vergessen.

Auch aus der Perspektive des Kindes wissen wir viel zu wenig über die Bedeutung des „normalen“ Geburtsweges, um die Frage der Belastungen abschließend bewerten zu können. Natürlich gibt es Situationen, in denen wir beispielsweise bei sehr jungen Frühgeborenen dem Kind die Wehen und den Druck auf das Köpfchen nicht zumuten können. Andererseits gibt es ernst zu nehmende Hinweise, dass auch der plötzliche „Ausstieg“ des Kindes beim Kaiserschnitt traumatisch erlebt zu werden scheint.

Der Kaiserschnitt ist also keinesfalls „der Modetrend des Jahrhunderts“, sondern sollte eine medizinische Option der Abwendung eines Schadens für Mutter und Kind bleiben. Er sollte stets aus einem tiefen und sorgfältigen Abwägungsprozess hervorgehen, der alle mütterlichen und kindlichen Aspekte berücksichtigt – auch die langfristigen Folgen. Und jeder Mensch, der einen Kaiserschnitt erlebt – egal ob als Mutter oder Kind – verdient eine dieser besonderen Situation angemessene Nachbetreuung.

Unser Autor: Dr. med. Sven Hildebrandt, 47, studierte an der Berliner Charité Medizin, er ist Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe und war 1996 Mitbegründer der Hebammenpraxis Dresden-Bühlau. Er ist verantwortlicher Arzt einer onkologischen Tagesklinik und übt einepsycho-, familien- und sexualtherapeutisch orientierte Beratungstätigkeit aus.