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Die Angst vor „Einsamen Wölfen“

Die Sicherheitsbehörden hatten die Attentäter von Nizza und Würzburg nicht auf dem Schirm. Experten sehen eine neue Qualität des Terrorismus.

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© dpa

Sabine Dobel

München. Paris, Brüssel, Istanbul, Nizza. Und jetzt in einem Regionalzug bei Würzburg. Jenseits von Großstädten und Menschenansammlungen, irgendwo in der unterfränkischen Provinz geht ein 17-jähriger Flüchtling mit einer Axt und einem Messer auf Fahrgäste los. In einem Video bezeichnet sich der Jugendliche als Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat.

Es sieht aus, als habe der Terror eine neue Dimension erreicht: Nicht vernetzte, unauffällige Täter, die sich extrem schnell radikalisieren und mit alltäglichen Gegenständen an unverdächtigen Orten eine Spur des Schreckens hinterlassen. Es ist der Terrorismus, den Sicherheitsbehörden am meisten fürchten. Gegen ihn gibt es kaum präventive Mittel.

„Ich fühle mich nicht sicher.“ Den Satz hört man öfter. Auch vor Großereignissen wie dem Oktoberfest. Urlauber meiden die Türkei und Ägypten. „Klar, dass das Sicherheitsempfinden leidet - aber der wichtigste Effekt ist ein politischer“, sagt Peter Neumann vom Internationalen Zentrum für Radikalisierung am King’s College in London.

Terroristische Einzeltäter in Europa

Einzeltäter, die bis zu einem Angriff nicht auffallen, sind eine besondere Gefahr. Die Sicherheitsbehörden haben sie nicht auf dem Schirm - wie auch im Fall des Axt-Angreifers aus dem Zug bei Würzburg. In Deutschland ist es der bisher dritte Angriff dieser Art. Beispiele aus Europa:

Juli 2016: Ein Attentäter rast in Nizza mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge. Mindestens 84 Menschen sterben, weitere 200 werden verletzt. Der Islamische Staat (IS) ist nach Angaben aus Kreisen, die der Terrormiliz nahestehen, für den Anschlag verantwortlich.

Juni 2016: Ein Islamist ersticht im Umland von Paris einen Polizisten und verschanzt sich in dessen Haus. Die Polizei stürmt das Gebäude und erschießt den Täter. Später wird dort auch die Lebensgefährtin des Opfers tot aufgefunden.

Februar 2016: Bei einer Kontrolle am Hauptbahnhof Hannover verletzt eine 15 Jahre alte Deutsch-Marokkanerin einen Bundespolizisten lebensgefährlich mit einem Messer. Die Ermittler gehen davon aus, dass es sich um einen gezielten Angriff mit IS-Hintergrund handelte.

August 2015: Ein 25-jähriger Marokkaner eröffnet in einem Zug von Amsterdam nach Paris das Feuer und wird von mehreren Fahrgästen überwältigt. Die Pariser Staatsanwaltschaft geht von terroristischen Motiven aus.

Juni 2015: Ein 35-Jähriger wird überwältigt, als er in einem Industriegas-Werk bei Lyon eine Explosion verursachen will. Er hatte zuvor seinen Arbeitgeber enthauptet und den Kopf mit zwei Islamisten-Flaggen auf den Fabrikzaun gesteckt.

Februar 2015: Ein arabischstämmiger 22-Jähriger feuert in Kopenhagen auf ein Kulturcafé. Ein Mann stirbt. Vor einer Synagoge erschießt der Attentäter einen Wachmann, bevor ihn Polizeikugeln tödlich treffen.

Mai 2014: Im Jüdischen Museum in Brüssel erschießt ein französischer Islamist vier Menschen. Kurz darauf wird er festgenommen. Als selbst ernannter „Gotteskrieger“ hatte er zuvor in Syrien gekämpft.

März 2011: Ein junger Kosovo-Albaner erschießt auf dem Flughafen Frankfurt/Main zwei US-Soldaten und verletzt zwei weitere schwer. Der Mann gilt als extremistischer Einzeltäter. (dpa)

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„Es ist ja genau die Strategie des Islamischen Staates, mit solchen uneinschätzbaren Anschlägen eine Polarisierung hervorzurufen“, sagt Neumann. „Es ist eine Art Teufelskreis: Die Extreme auf beiden Seiten der Bevölkerung erstarken, auf der islamistischen und rechtspopulistischen Seite.“ Die Rechten gewinnen grenzübergreifend: FPÖ, Front National oder die Alternative für Deutschland (AfD).

In der Wahllosigkeit von Ort und Opfern sehen Experten eine neue und alarmierende Stufe. „Der Amokläufer, wie man ihn aus der Literatur kennt, hat ein Ziel, das er als Ursache seines Leidens sieht: Der Arbeitsplatz, an dem ihm gekündigt wurde, die Schule, an der er erfolglos war“, sagt der Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, Martin Rettenberger. Der IS gibt Ziellosen nun ein - vermeintliches - Ziel. Und das Infame: Dieses Ziel ist überall.

„Es sind einsame Wölfe, denen der Islamische Staat eine Projektionsfläche bietet, und ihnen erlaubt, ihre persönlichen Probleme in ein politisches Projekt zu verwandeln“, sagt Neumann. „Der IS gibt ihnen sozusagen die Lizenz, die Marke Islamischer Staat dafür zu nutzen.“

Neumann zufolge hatte der IS bereits im September 2014 Angriffe wie die von Nizza und Würzburg vorgeschlagen: nicht mit Waffen, sondern mit allgemein zugänglichen Mitteln, Messern, Äxten oder Autos. Neu ist selbst für die Experten: das Tempo der Radikalisierung. Neumann spricht von „Blitzradikalisierung“: „Normalerweise gehen wir von Monaten oder Jahren aus.“ Hier waren es nun Wochen oder sogar nur wenige Tage. „Das ist schon eine neue Qualität.“

Zeugen zufolge war der 17-Jährige Täter von Würzburg bisher nicht als radikalisiert oder fanatisch in Erscheinung getreten. „Auch das umfassendste und intensivste Sicherheitskonzept wird solche schrecklichen Anschläge wie gestern Abend nie restlos ausschließen können“, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU).

Wo kann man sich noch sicher fühlen: Zuhause? Auf einer Alm? Immer wieder haben Politiker gemahnt, sich nicht einschüchtern zu lassen. „Wir müssen unser Leben weiterleben - sonst haben die Terroristen gewonnen“, hieß es. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalltodes bleibe wesentlich höher. „Das Risiko, Opfer eines Terroranschlags oder einer Gewalttat zu werden, ist in Deutschland nach wie vor sehr gering. Das ändert sich auch nicht durch einzelne Anschläge“, sagt Rettenberger.

Viele setzten ein Zeichen von Solidarität gegen die Angst. Tausende versammelten sich in Nizza, Gebäude wurden in den Farben der französischen Trikolore blau-weiß-rot angestrahlt, etwa die französische Botschaft in Berlin und die Feldherrnhalle in München bei einem Klassikkonzert.

Der bayerische Innenminister ruft die Bevölkerung auf, lieber einmal zu oft als zu wenig die Sicherheitsbehörden zu alarmieren. „Ich glaube, dass die Botschaft richtig ist, aufeinander zu achten. Aber ich glaube auch, dass wir aufpassen müssen, dass es nicht in Hysterie ausartet“, sagt Rettenberger dazu. Er warnt davor, aus Angst übereilt Freiheitsrechte zu beschränken. Mehr Überwachung bedeute auch einen Verlust an Freiheit.

Fraglich ist aber gerade bei den Anschlägen von Nizza und Würzburg, ob mehr Überwachung die Taten hätte verhindern können. (dpa)