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Die bleierne Zeit

Nicht nur der große Staatsmann: Für viele Deutsche war die Ära Kohl eine Phase der Lähmung, der Spießigkeit, des gesellschaftlichen Biedermeiers.

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© AP

Von Oliver Reinhard

Über die Toten nur Gutes – dieses Prinzip gilt für jede Abschiedsrede, sei es auf der privaten Beerdigungszeremonie oder beim offiziellen Staatsakt. So soll die Würde des Toten gewahrt, sein Andenken in Ehren gehalten werden. So dürfte es auch geschehen beim Begräbnis von Helmut Kohl, von dem sich am Sonnabend nicht nur längs des Zeremonienparcours von Straßburg über die Grablege in Ludwigshafen bis zur Totenmesse in Speyer Trauernde und Kondolierende aus aller Welt verabschieden. Man wird ihn ehren als großen Staatsmann in außenpolitisch schwierigen Zeiten, konsequenten Kämpfer für das vereinte Europa, als geschickten und überwiegend erfolgreichen Nutzer der Stundengunst von 1989. Und als Gestalter und Wahrer eines überaus positiven Deutschland-Bildes im Ausland. Alles zu Recht.

Freilich war der große Staatsmann weit mehr als das, nur taugt vieles davon nicht für offizielle Nachrufe, eben weil: Über die Toten nur Gutes! So fehlt vielen Würdigungen, auch in manchen Medien, Entscheidendes, ohne das man der Komplexität dieser historischen Figur aus Oggersheim unmöglich gerecht werden kann. Denn so diplomatisch, verhandlungs- und konsensfreudig, so weitblickend und fortschrittlich Helmut Kohl im Außenpolitischen wirkte, ob in Strickjacke oder Anzug, so hart und kompromisslos, so selbstgerecht und egozentrisch, so regressiv und reaktionär konnte er im Inneren handeln.

Alles schmeckte nach Gestern

Sie geht in die Zig-Millionen, die Zahl jener Bundesbürger, die damals keineswegs allesamt – wie weiland auch der Schreiber dieser Zeilen – jung sein und zumindest rötlich oder grünlich denken mussten, um vor allem die erste Hälfte die Ära Kohl als bleierne Zeit zu empfinden. Als Phase der gesellschaftlichen Lähmung, der Spießigkeit, des erdrückenden Biedermeiers, klebrig wie Bratensoße, die alles mit ihrem Geschmack nach Gestern überlagerte. Darunter war besonders intensiv zu spüren, wie sehr dieser Kanzler seinem großen Vorbild Adenauer nacheiferte und seine Zeit in vielem auch so miefen ließ wie dessen Zeit.

Man konnte schon damals durchaus nachvollziehen, dass einem Menschen und Politiker seiner durch und durch traditionell-konservativen Prägung die 68er verhasst sein mussten und er die sozialdemokratischen Jahre unter Willy Brandt und Helmut Schmidt als nationale Leidensphase betrachtete. Doch dass Kohl deshalb auch den meisten Wert-Errungenschaften jener Jahre misstraute oder sie wie alles „Intellektuelle“ gar verachtete, von Emanzipation und Pazifismus über Gleichberechtigung und Minderheitenschutz bis hin zur Ökologie, machte ihn damals für die meisten fortschrittlicher und moderner Denkenden zum Un-Kanzler.

Was mit der geistig-moralischen Wende gemeint war, die er einforderte, schien vielen nur allzu klar: ein innerer Rücksturz der Bundesrepublik Richtung Schwarz. Dafür stand Helmut Kohl nicht nur mit seiner äußeren Erscheinung eines „Felsmassivs von geradezu mineralischer Lethargie“, wie Peter Sloterdijk es formuliert hat: Der Pfälzer liebte Maultaschen, Volksmusik und Wolfgangsee, setzte noch in einer sich zunehmend globalisierenden Welt strikt auf Heimat, Volk, Vaterland und pflegte das schon damals verlogene Bild des innigen Familienmenschen. Zugleich trug er in der Politik unübersehbare Selbstherrlichkeit zur Schau, legte autoritäre Alleinherrscher-Attitüden an den Tag, walzte Diskussionen platt, saß Probleme aus.

Die Jugend? Mochte Kohl nur, wenn sie weder debattierte noch aufmuckte, sondern brav und folgsam war, Jura oder Wirtschaft studierte, den elterlichen Betrieb weiterführte oder schon mit 16 mehrere Unternehmen gegründet hatte. Als ihn der Reporter eines Jugendsenders mal um ein kurzes Statement bat, herrschte Kohl ihn grundlos an: „Sie wollen für die Jugend stehen? Schauen Sie sich doch mal an!“ Der Mann trug Blouson, Shirt, Jeans, Turnschuhe. Indes war der Grund für diese Flegelei nicht schwer zu erraten: Im vergangenen halben Jahrhundert wurde kein Bundeskanzler von Großteilen der Presse derart obsessiv angefeindet wie Helmut Kohl.

Wie sehr es ihm an wahrer menschlicher und Charaktergröße fehlte, wurde spätestens nach dem Ende seiner politischen Karriere offenkundig. Durch seine Weigerung, die Herkunft diverser Parteispenden klären zu helfen, zerbrach er das Verhältnis zu seiner Partei endgültig und zog sich zurück ins Abseits, beleidigt, uneinsichtig, unfähig zur Selbstkritik.

Andererseits: Gerade während der bleiernen Zeit Helmut Kohls entwickelten sich in der Alten Bundesrepublik umso trotziger und entschlossener vor allem in der Friedens-, Emanzipations-, Anti-Atomkraft- und Öko-Bewegung jene Kräfte, die seit den Neunzigern der neuen Republik zu einem enormen gesellschaftlichen Modernisierungsschub mitverholfen haben.

Zumindest insofern darf man bilanzieren: Dass das Denken der meisten Deutschen heute auch von Liberalität, Umweltbewusstsein, Offenheit, Toleranz, Gleichberechtigungsstreben geprägt ist, gehört ebenfalls zu den – wenn auch wohl unbeabsichtigten – Verdiensten Helmut Kohls.