Merken

Die Bombe im Frisörladen

Der jüngste Blindgängerfund in Pirna weckt Erinnerungen an den Angriff auf die „Hermann-Göring-Siedlung“ vor 73 Jahren.

Teilen
Folgen
© Norbert Millauer

Von Jörg Stock

Pirna. Welche Schere ist denn nun die vom Emil? Thea Krause besieht die Exemplare, die Tochter Elke aus dem Schrank hervorsucht. Ist es die? Ach nein, das ist die Küchenschere. Und die? Zu klein. Aber die hier! Thea steckt die Finger durch die Griffringe, schnippelt durch die Luft. Ja, das ist sie, abgewetzt und altmodisch, aber noch immer scharf. Thea Krause hat 45 Jahre lang Leute frisiert. Aber nie mit dieser Schere. Die Schere ist ein Andenken an ihren Vater, den Frisör Emil Nitsche, und an den Tag, als man kaum mehr Brauchbares als einen Rasiernapf, eine Vase und eben diese Schere aus dem Trümmerhaufen zog, der einmal sein Haus gewesen war.

Kein Stein mehr auf dem anderen: Beim Bombenabwurf auf Pirnas Südvorstadt fiel am 15. Februar 1945 das Siedlungshaus von Frisör Emil Nitsche auf der Immelmannstraße, heute Hans-Holbein-Straße, in Trümmer. Fotos: privat
Kein Stein mehr auf dem anderen: Beim Bombenabwurf auf Pirnas Südvorstadt fiel am 15. Februar 1945 das Siedlungshaus von Frisör Emil Nitsche auf der Immelmannstraße, heute Hans-Holbein-Straße, in Trümmer. Fotos: privat

Familie Nitsche lebte in Pirnas Süden, in der „Hermann-Göring-Stadt“, gleich neben der Pionier-Kaserne. Trotz des Namenspatrons aus Hitlers engstem Kreis und der Nachbarschaft zum Militär gilt heute als sicher, dass der Bombenangriff auf das Quartier am 15. Februar 1945 keine Absicht war. Als mehrere Staffeln der 1. US-Luftdivision zur Mittagsstunde die Bombenschächte öffneten, wähnten sie unter sich wohl Dresden. Dichte Wolken und Probleme mit der Zieltechnik hatten sie in die Irre geleitet. So fielen über vierhundert Sprengbomben auf die Kaserne, die Siedlung und den Pirnaer Stadtwald, die Viehleite.

Knapp 73 Jahre später hat der verirrte Angriff Pirna noch einmal getroffen. Vor gut zwei Wochen buddelten Kampfmittelsondierer auf dem Acker hinter der Viehleite einen 500 Pfund schweren Blindgänger aus. 1 800 Menschen mussten für die Entschärfung ihre Wohnungen im Stich lassen, eine halbe Nacht lang. Thea Krause, die noch immer in der Südvorstadt lebt, hatte Glück. Ihre Straße blieb von der Räumung verschont. Dass das der letzte Blindgänger gewesen sein soll, daran glaubt sie nicht. „Da liegen bestimmt noch mehr.“

Als Thea Krause 1929 geboren wird, ist sie das jüngste der vier Nitsche-Kinder. Vater Emil hat seinen Frisörladen im Vorort Rottwerndorf. Die Großfamilie haust unterm Dach des Gasthofs, sieben Meter Küche, dazu eine Schlafstube mit Blick auf die blanken Dachsteine. Man liegt auf Strohsäcken, zwei Kinder teilen sich ein Bett. Das ist typisch für diese Zeit. Die Industriestadt Pirna wächst, aber der Wohnraum wächst nicht mit. Groß ist die Freude, als Emil Nitsche einen Bauplatz in der neuen Südvorstadt erhält.

Neue Lebenslust in „Hetzdorf“

Der Siedlungsbau, 1935 gestartet, geht rasant vorwärts. Von 1 000 geplanten Wohnungen sind 1938, zur Taufe auf Görings Namen, schon 669 fertig. Wegen der Eile am Bau bekommt das Viertel den Spitznamen „Hetzdorf“. Malerisch eingebettet ins Gottleubatal, avancieren die Zeilen aus adretten Eigenheimen und Mehrfamilienhäusern zum Ausflugsziel. 1937 ist auch das Häuschen der Nitsches bezugsbereit. In der Immelmannstraße 43 gibt es endlich für alle ein Bett, fließend Wasser, einen eigenen Frisörladen für den Vater und massenweise Spielkameraden für die Kinder.

Die Leute haben sich verkrochen

Aber bald gibt es auch den Krieg. Thea kümmert sich anfangs kaum darum. Doch dann fällt ihr Bruder Werner. Bruder Heinz kommt ohne linke Hand aus Russland wieder. Im Viertel bleiben die Gaslaternen aus. Die Glaskugeln der Hauslichter werden blau angemalt, lassen nur noch eine Ahnung von Licht durch. Die Fenster schirmt man mit schwarzer Pappe oder mit Decken ab, damit ja kein Streiflein Helligkeit hinaus dringt und den Bombenfliegern ein Ziel bietet. „Die Straßen waren leer“, erinnert sich Thea Krause, „die Leute haben sich verkrochen.“

Ende 1944 nehmen die Fliegeralarme zu. Wenn die Sirenen heulen, rennen die Nitsches um die Ecke in den Keller von Fleischermeister Grundmann. Ihr eigener Keller, klein und niedrig, kommt ihnen zu unsicher vor. Doch stets verebbt das Motorengedröhn der Bomber ohne Folgen. Die Alarme werden für Thea zur Routine. „Das war für uns eine ganz normale Sache.“

Am 13. Februar brennt Dresden. Emil Nitsche, dienstverpflichtet am Hauptbahnhof, flieht mit zwei Verwandten glücklich aus dem Inferno. Völlig verrußt langen die drei in Pirna an. Zur Feier des Tages will Mutter Martha Nitsche am 15. Februar ein gutes Essen auftischen. Doch Punkt Mittag ist wieder Alarm. In der Annahme, es werde wie immer nichts passieren, wird Thea mit Bruder Heinz aus dem Fleischerkeller zurückgeschickt, um daheim am Herd eine Kohle nachzulegen, damit das Essen warm bleibt. Auf der Straße zeigt Heinz seiner Schwester die glitzernden Flieger, die über den Kohlberg heranmarschieren. Plötzlich schreit er: „Hau ab! Sie klinken aus!“

Die Druckwellen der Einschläge stoßen Thea die Kellertreppe hinab. Dann kracht es. Dreck überall, nichts mehr zu sehen. Der Vater kriecht aus dem Kellerfenster, rennt durch den Dunst den Hang hinauf in den Wald. Von dort sieht er, dass in der Immelmannstraße ein Dach fehlt. Das Dach von Nummer 43. Sein Dach. Als die Staubwolken zerfließen, steht die Familie vor den Resten ihres Hauses. Der Volltreffer hat nicht einen Stein auf dem anderen gelassen. Der Explosionskrater reicht bis zum Kellerboden und noch einen Meter tiefer. Hätten sie hier Schutz gesucht, sie hätten alle den Tod gefunden.

Was dachte Thea in diesem Moment? Vor lauter Schreck gar nichts, sagt sie. Außer das: „Wir leben noch.“ Andere hatten nicht so viel Glück. Im übernächsten Haus haben die Bomben Familie Müller ausgelöscht. Insgesamt sterben an diesem Tag 14 Siedler und 31 Soldaten. Fast 230 Menschen sind auf einen Schlag obdachlos.

Emil Nitsche gab nicht auf. „Das Haus muss wieder stehen“, sagte er. Und so kam es. 1950 konnten Nitsches wieder einziehen. Ein Jahr später starb Emil Nitsche, 51-jährig, an Lugenentzündung, wohl auch, so denkt Thea, wegen der Anstrengung beim Wiederaufbau. „Die schwere Arbeit hat ihn ausgezehrt.“ Emil Nitsches Frisörgeschäft blieb, und mit ihm blieb Thea. Auch als der Laden später unter „PGH Figaro“ firmierte. Einige Jahre führte sie das Geschäft sogar noch selbstständig. 1989 ging sie in Rente. Das Haus ist längst verkauft. Heute ist es ein normales Wohnhaus. Für die, die darum wissen, bleibt es das Haus, das man zweimal baute, das Haus, das auferstand aus seinem eigenen Schutt.