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Die Übersetzerin des Massenmörders

Ruth Berlowitz ist die erste Jüdin, die den eigenen Stolperstein erlebt. In ihrem Job traf sie auf Adolf Eichmann, den Organisator der Judenvernichtung.

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© Fotos: Claus Dethleff

Von Tobias Wolf

Unscheinbar glänzen die messingfarbenen Quadrate im Asphalt am Lukasplatz. Ruth Berlowitz beugt sich nach unten, legt eine Rose neben die frisch verlegten Stolpersteine für ihre Mutter, ihren Vater und für sich selbst. Es ist das erste Mal, dass eine Zeitzeugin bei der Verlegung des eigenen Gedenksteins in Dresden dabei ist, heißt es vom Stolpersteinverein, der die Zeremonie organisiert hat. Es soll kein Aufsehen geben, auch die obligatorische Musik wird nicht gespielt. Berlowitz, die wegen ihres Dolmetscher-Jobs im Eichmann-Prozess bekannt wurde und die Öffentlichkeit eher meidet, hat sich das so gewünscht. Für den Moment am Lukasplatz ist sie mit der Familie aus Tel Aviv angereist.

Ruth Berlowitz in Dresden.
Ruth Berlowitz in Dresden. © Fotos: Claus Dethleff

Die 90-Jährige hat sich – umringt von ihrem Sohn und den Enkeln – wieder in den bereitstehenden Stuhl gesetzt. Vor fast genau 80 Jahren war das ihr Kiez, sie kannte jeden Ort in der Umgebung. Wie jedes andere Kind spielte Berlowitz hier in der Nachbarschaft. Vater Friedrich war ein angesehener Zahnarzt, in dessen privatem Umfeld auch der Dresdner Romanistikprofessor Victor Klemperer verkehrte. In der Lukasstraße 3 lebte die Familie. Heute steht dort ein zu DDR-Zeiten errichtetes Ärztehaus mit Pflegedienst und Apotheke. Eine Seniorenresidenz und die Lukaskirchgemeinde sind die Nachbarn.

Damals ging es in der elterlichen Wohnung von Berlowitz liberal zu. Dort trafen sich Intellektuelle und Künstler. Das Familienklavier von damals steht heute in Berlowitz‘ Haus bei Tel Aviv. Was bedeutet ihr diese Erinnerung nach so langer Zeit, das späte Gedenken an ihre entrechtete jüdische Familie? Die Stolpersteine seien bescheiden, zurückhaltend und doch edel, sagt Berlowitz. „Jeder, der hier vorbeikommt und sich dafür interessiert, kann nun die Namen meiner Familie lesen, die genau hier gelebt hat.“ Eines Tages im Jahr 1936 malten Unbekannte das Wort „Jude“ an die Praxis des Vaters. Längst wird die Familie im Dritten Reich angefeindet. Ist es Intuition, eine Vorahnung, was noch kommen wird, als Friedrich Berlowitz beschließt, mit seiner Frau und der zehnjährigen Ruth zu fliehen?

„Der Entschluss meines Vaters, mit der Familie nach Palästina zu gehen, hat uns wohl das Leben gerettet“, erzählt die alte Dame. „Zwei Tanten von mir gelang die Flucht nicht.“ Sie kamen im Konzentrationslager Majdanek um. Eine Cousine überlebte den Holocaust wohl in einem Versteck in Berlin.

In Haifa/Palästina macht Ruth Berlowitz ihr Abitur an einer englischen Schule. Später geht sie zum Studieren nach Großbritannien, verbringt auch einige Zeit in Frankreich und Italien. In der Schweiz erhält sie schließlich ihr Dolmetscherdiplom. Berlowitz arbeitet nun bei der US-Botschaft in Israel, übersetzt und analysiert dort Presseberichte. Ihr wohl prägendster Job wird sie auf brutale Weise an ihre eigene Familiengeschichte im nationalsozialistischen Deutschland erinnern.

Berlowitz soll im Prozess gegen Adolf Eichmann dolmetschen, den Ex-Chef des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt der SS. Aus dem Hebräischen, dem Englischen und dem Französischen wird sie simultan für den Angeklagten, die Verteidigung, Prozessbeobachter und einige Journalisten ins Deutsche übersetzen. Sicher war die damals 35-Jährige anfangs nicht, dass sie das aushalten könnte. Eine Woche vergräbt sie sich in einem Strandhotel und liest die Gerichtsakten. „Eine Woche habe ich mit Eichmann gelebt, gegessen, geatmet“, berichtete sie später in einem Interview. Sie entscheidet sich für den Dolmetscher-Job. Über Monate hört der Massenmörder Eichmann Berlowitz Stimme in seinen Kopfhörern, auch als sie am Ende das Todesurteil für ihn übersetzt.

Ruth Berlowitz hört den Richter, Zeugen und die dramatischen Aussagen von Überlebenden des Holocaust. Sie schwört sich danach, nie wieder einen solchen Job zu übernehmen, tut es aber über 20 Jahre später doch: im ersten Prozess gegen den mutmaßlichen früheren KZ-Aufseher John Demjanjuk, der im Mai 2011 wegen Beihilfe zum Mord an über 28 000 Menschen verurteilt wurde. Auch wegen ihrer eigenen Familiengeschichte hat sie der Holocaust bis heute nicht wieder losgelassen.