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Die Geschichten der Olympiahelden

Als Geher feierten sie große Erfolge und erlebten skurrile Situationen, denn: Sportbürokraten gab es zu allen Zeiten.

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© Robert Michael

Von Jochen Mayer

Lebkuchen sind jederzeit ein Leckerbissen, und in der Vorweihnachtszeit besonders beliebt. Deshalb wundert sich in der Pfefferkuchenstadt Pulsnitz niemand über die vielen Gäste. Und doch war die Gruppe grau- und weißhaariger Männer etwas Besonderes: Einstige Sportgrößen besuchten am Freitag die Lebkuchenfabrik. Anlass der Visite war ein Forum von Zeitzeugen. Die gehörten vor gut 50 Jahren zu den Athleten, die die Unterdruckkammer für die Pilotenausbildung in Königsbrück zum Leistungssport-Training nutzten. Vorreiter waren die Geher.

Auf diesem Foto ist Höhne auf dem Weg zum Olympiagold in Mexiko.
Auf diesem Foto ist Höhne auf dem Weg zum Olympiagold in Mexiko.

Die Olympiasieger Christoph Höhne und Peter Frenkel sowie Hans-Georg Reimann, der 1976 die DDR-Olympiafahne trug, plauderten nach Lebkuchen-Einstimmung und Visite in der neuen Druckkammer aus alten Zeiten. Ihre Geschichten hatten im Königsbrücker Offizierskasino aktuelle Bezüge. Denn auch heute fragt man sich: Was bleibt von Sportkarrieren? Was sind überhaupt die Werte des Sports? Akademische Antworten gab es darauf nicht – aber erhellende Episoden.

So sah sich Christoph Höhne, der 1968 mit über zehn Minuten Vorsprung das 50-km-Gehen in Mexiko gewonnen hatte, nie als Talent. Aber Olympiasieger wollte der Sachse werden. Und so suchte er die passende Disziplin, setzte Weltrekorde ins prozentuale Verhältnis zu seinen Bestmarken, weil er wissen wollte, wo seine besten Chancen wären. Der schmächtige Junge versuchte sich sogar mit dem Speer, bastelte sich einen Hammer. Und probierte sich beim Gehen. Da wurde er beim ersten Wettkampfversuch zwar Letzter, aber nicht überrundet. Das gab den Ausschlag. Er meldete sich bei den Klubgehern in Leipzig und sagt heute bestimmt: „Ich hätte mich nie wegschicken lassen.“

Seine damals einfache Logik lautete: „Wenn ich besser sein will als alle anderen, dann muss ich mehr investieren, muss mehr trainieren.“ In Mexiko bekam er dafür den Lohn bei einer olympischen Sternstunde. Und er wusste genau, warum: „Fleiß und Willen geben den Ausschlag. Ich hatte dazu auch Lust, mich im Training zu quälen. Das zahlte sich am Ende aus.“

Denunziant meldet Westkontakte

Vier Jahre nach dem Mexiko-Triumph traf ihn fast der Schlag. Am Tag vor der Münchner Entscheidung auf der langen Geherstrecke wurde Höhne zur Mannschaftsleitung zitiert. Ein Denunziant hatte Westkontakte gemeldet. Höhne erfuhr selbst durch seine Stasi-Akte nicht, wer dahinter steckte. Er kannte aber die Wahrheit, hatte sich tatsächlich heimlich mit dem Westdeutschen Bernhard Nermerich getroffen. Der war auf Rang zwei liegend in Mexiko bei Kilometer 42 disqualifiziert worden.

„Natürlich habe ich damals alles abgestritten“, erzählt Höhne in Königsbrück und betont, dass er sich nicht als Widerstandskämpfer sieht. „Es war mein Fehler, ich kannte die Regeln.“ Ihm wurde allerdings unterstellt, in München bleiben zu wollen. Damit wurde der Mexiko-Held kalt getroffen. Er grübelte, hatte Angst um die Familie, konnte nicht schlafen, glaubte schon, Gespenster zu sehen, vermutete seine Angehörigen unter den Zuschauern. „Da konnte im Wettkampf nichts rauskommen“, kommentiert er heute seinen 14. Platz. Aber Aufgeben war kein Thema, das verboten ihm seine Maximen: „Schwach sein ist kein Grund zum Hinschmeißen. Verlieren ist keine Schande.“ Als einzigen Grund lässt er Verletzungen oder Krankheiten gelten. Nach der Münchner Pleite verschob Höhne das Karriereende. So wollte er nicht abtreten und machte 1974 als Europameister Schluss.

In München gewann Peter Frenkel das Olympiagold, das er eigentlich in Mexiko schon holen wollte. Doch seine Höhenanpassung hatte nicht funktioniert. 1972 reiste der Potsdamer direkt aus der Unterdruckkammer – in der wurden Höhenbedingungen simuliert – mit einem Nachtzug nach München. Auf Rang drei kam sein Kollege Hans-Georg Reimann. Beide waren sich nahegekommen, als sie vor den Spielen in Erfurt gemeinsam zum Weltrekord von 1:25:19,4 Stunden gegangen waren.

Runde um Runde hatten sie sich abgelöst, im Gleichschritt kamen sie zeitgleich ins Ziel. Dort wurden die Synchrongeher vom Kampfgericht überrascht, das unbedingt einen Sieger ausmachen wollte, sogar mit Disqualifikation drohte. Die Regeln hätten es hergegeben wegen „Nichtachtung der Wettkampfchance“. Dabei waren sie gerade Weltrekord marschiert. Sportbürokraten gab es zu allen Zeiten, in allen Systemen. DDR-Sportchef Manfred Ewald sprach ein Machtwort, verhinderte eine Lachnummer in der Leichtathletik-Welt.

„Wettkampf ist Wettkampf“, erzählt der 76-jährige Hans-Georg Reimann beim Zeitzeugen-Forum, „danach hat uns das normale Leben wieder. Aber dieses Erlebnis und all die Turbulenzen trugen viel dazu bei, dass wir uns noch besser akzeptieren konnten und gute Freunde geworden sind. Das hält bis heute an.“ 1976 standen beide mit Silber und Bronze noch einmal auf dem Olympiapodest.

Verbotene Gratulation an Italiener

Peter Frenkel nahm den Slogan vom völkerverbindenden Sport wörtlich. Der Armeesportler hatte registriert, dass sein italienischer Kollege Maurizio Damilano auch durch ihn zum Gehsport gefunden hatte. Das verbindet. Als Damilano in Moskau zum Olympiagold gegangen war, schickte Frenkel einen Glückwunsch. Das kam bei seinen Vorgesetzten nicht gut an. Frenkel nahm es aber ernst mit der Sportfreundschaft. „Ich habe gedroht, meine Olympiamedaillen an das IOC zu schicken, wenn so eine Geste nicht möglich sein soll“, erzählt der 78-Jährige. Es blieb bei der Drohung.

Auch wenn die Olympiakämpfer ins Alter gekommen sind, der Sport lässt sie nicht los. Der 76-jährige Höhne wurde vergangenes Jahr sogar Welt- und Europameister der Senioren. Dabei blieb er sich treu, lobt die Konkurrenz: „Es gab noch einen Besseren, gegen den hätte ich keine Chance gehabt. Aber der konnte nicht antreten, hatte einen Pflegefall in der Familie.“

Sie bleiben auf dem Teppich, können einschätzen, was sie sich noch zutrauen können. Und sie gehen – wie sie es gewohnt sind – ihren Weg konsequent, unaufgeregt weiter. Das haben sie in ihren besten Athletenjahren schon so gehalten.