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Die Herausforderung des „Musterjuden“

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Kommentare und Analysen zu aktuellen Themen. Texte, die aus der ganz persönlichen Sicht des Autors Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen. Heute: Am Sonntag wird das Oberhaupt des Zentralrats der Juden neu gewählt. Der jüdische Publizist Rafael Seligmann bilanziert die Geschichte und Gegenwart des Verbandes und zeigt, welchen Herausforderungen sich der neue Präsident stellen muss.

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Von Rafael Seligmann

Am kommenden Sonntag wird Dieter Graumann zum neuen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt. Soweit der offizielle Titel. Doch dahinter verbirgt sich weit mehr. Tatsächlich kürt man Graumann damit zum ersten „Musterjuden“ der Nation. Die Funktion des Musterjuden entspringt gleichermaßen der deutschen Kultur und Geschichte, insbesondere der nach 1945. In Folge des moralischen Zusammenbruchs während des Nazismus empfanden die Deutschen einen Phantomschmerz nach ihren jüdischen Mit-Bürgern. Die wenigen Juden, deren man habhaft wurde, stilisierte man, von schlechtem Gewissen geplagt, allesamt zu Ebenbildern des Weisen Nathans. An erster Stelle steht hierbei der „Oberjude“, der Vorsitzende des 1950 ins Leben gerufenen Dachverbandes der hiesigen Israeliten, eben des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Bei dieser Stilisierung wurde allerdings ausgeblendet, dass es sich um real existierende Menschen samt ihrer Schwächen handelt. Dieses menschlichen Faktors war sich William Shakespeare (1564-1616) im Gegensatz zu Lessing wohl bewusst. Er stellte diese Problematik in den Mittelpunkt seines Dramas „Der Kaufmann von Venedig“. Dabei deklamiert und erklärt Shylock: „Ich bin Jude... Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? ... Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?“

Zu diesem humanen Wirklichkeitssinn waren die Deutschen nach dem Völkermord jedoch unfähig. Bemerkenswerterweise wurde in der Postnazizeit die Rolle des Shylock auf deutschen Bühnen zunächst vorwiegend mit jüdischen Schauspielern besetzt. Am liebsten mit Fritz Kortner oder Ernst Deutsch. Im Gegensatz zu den Mimen waren die Vorsitzenden des Zentralrats allerdings gezwungen, sich mit den Fährnissen des tatsächlichen Lebens in der traumatisierten deutsch-jüdischen Postnazigesellschaft auseinander zu setzen. Keiner war in der Lage, diese Aufgabe zu leisten, ohne irreparablen Schaden zu nehmen.

Ignatz Bubis, der von 1992 bis 1999 Zentralratspräsident war, begriff als erster, dass die Juden nicht in der inneren Emigration, sondern nur innerhalb der deutschen Gesellschaft die Gelegenheit erhalten würden, erstmals in der deutschen Geschichte eine gleichberechtigte Position einzunehmen. Dabei musste er viele Niederlagen hinnehmen. Am meisten schmerzte Bubis, dass allzu viele sich nicht an der von Martin Walser geprägten üblen Nachrede von der „Moralkeule“ stießen, die die Juden angeblich nutzten, um jegliche Kritik zu unterdrücken. Bubis starb verbittert und gebrochen. Wenige Tage zuvor hatte er mir in seinem letzten Interview erklärt: „Ich habe fast nichts bewirkt“.

Charlotte Knobloch, noch bis Sonntag amtierende Präsidentin des Zentralrats, leitete behutsam eine Weichenstellung des hiesigen Judentums ein. Sie beendete die Phase, in der die Juden wähnten, auf gepackten Koffern in Deutschland zu verharren, in permanenter Bereitschaft, das Land bei einem Wiederaufleben des Antisemitismus zu fliehen – obgleich sie längst hier eine neue Heimat gefunden hatten. Im Herzen ihrer Heimatstadt München erkämpfte Knobloch ein jüdisches Gemeindezentrum. Bei dessen Eröffnung betonte sie: „Wir haben gebaut, um hier zu bleiben!“

Doch dem tagtäglichen intriganten Herausforderungen ihres Amtes war die 78-jährige auf Dauer nicht gewachsen. Auch nicht der vom Zentralrats-Generalsekretär Stephan Kramer angefachten Hysterie. Fehlte Knobloch entschuldigt auf einer Feierstunde des Bundestages, deutete Kramer dies als einen antijüdischen Affront. Problematische Aussagen Thilo Sarrazins kommentierte der General, in dem er diesen mit Goebbels verglich. Knobloch war zu zurückhaltend, um Kramers Medienrummel zu unterbinden. Nun hat sie resigniert.

Mit der Wahl Dieter Graumanns ergibt sich nun die Chance für eine allmähliche, doch stetige Normalisierung der deutsch-jüdischen Beziehungen. Graumann wurde vor sechzig Jahren in Israel geboren. Als er zwei Jahre alt war, emigrierten seine Eltern nach Deutschland. In Frankfurt besuchte er die SchuIe. Hier und Großbritannien studierte er Volkswirtschaft, ehe er an den Main zurück kehrte. Nach einer Tätigkeit in der Bundesbank machte sich Graumann als Kaufmann selbstständig. Diese Lebensdaten machen den Umbruch an der Spitze des Zentralrats deutlich. Dieter Graumann wird der erste Präsident des Zentralrats sein, der nach dem Völkermord geboren wurde. Gleichwohl erfuhr er als Sohn von Überlebenden der Shoah traumatische Prägung.

Der intellektuell aufgeschlossene junge Mann wurde in den 70er und 80er-Jahren gemeinsam mit dem Architekten Salomon Korn von der Vaterfigur der Frankfurter Juden gefördert – eben Ignatz Bubis. Als Kulturdezernent der jüdischen Gemeinde hat sich Dieter Graumann systematisch mit der jüdischen und deutsch-jüdischen Geschichte und Tradition beschäftigt. Seine Aufgaben erfüllt er diskret. Der Volkswirt drängt sich nicht ins Scheinwerferlicht. Er scheut vorschnelle Statements und verletzende Aussagen. Lieber hört er zu, wägt ab und sucht, wenn möglich, eine Einigung, die alle Beteiligten das Gesicht wahren lässt.

Dies demonstrierte Graumann zuletzt bei der Gedenkfeier zum 9. November in der Paulskirche. Als Festredner war Alfred Grosser vorgesehen. Der französische Politologe ist als Israelkritiker bekannt, der auch Walsers Parole vom „Einschüchterungsmittel“ Auschwitz gutheißt. Generalsekretär Kramer empfahl via Presse den jüdischen Repräsentanten, der Gedenkfeier fernzubleiben. Graumann hielt sich nicht an diese Empfehlung. Ihm war es in erster Linie um eine würdige Gedenkstunde zu tun, nicht um die eigene Profilierung. Am Ende gelang es ihm.

Ob Dieter Graumann als Präsident des Zentralrats –also als Deutschlands Musterjude – Erfolg haben wird, liegt indes jenseits seines ausgleichenden Wesens und seines Intellekts an den dualen althergebrachten deutsch-jüdischen Faktoren. Wird die jüdische Gemeinschaft dem behutsamen Öffnungskurs folgen? Graumann wird dafür sorgen müssen, dass der Zentralrat in der Öffentlichkeit mit einer Stimme spricht – und dies sollte seine Stimme sein.

Entscheidend aber bleibt die Haltung der nichtjüdischen Gesellschaft. Werden die Menschen hierzulande begreifen, dass die Juden mehr als Opfer sind, nämlich ein Teil der deutschen Geschichte und Gesellschaft? Kann Graumann dazu beitragen, dass sich diese Haltung durchsetzt, dann haben alle Seiten gewonnen. An der Zuversicht des neuen Präsidenten wird dieses Unterfangen, das zugleich ein Test für die Stabilität der freiheitlichen deutschen Gesellschaft ist, nicht scheitern.