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Die Indianer vom Schlossberg

Annelies und Konrad Gottschalk aus Meißen sind Bleichgesichter, die gerne so tun als wären sie Indianer – und das seit 57 Jahren.

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© Claudia Hübschmann

Von Dominique Bielmeier

Einmal haben sie zur Indian Week, zur Woche der Indianer, sogar einen Bären geschlachtet. Häuptling Tecumseh verzieht amüsiert das Gesicht, als er davon erzählt. „Die reinste Freude war es nicht gerade.“ Eine Woche lang hätten die Frauen aus dem Fleisch Gulasch schneiden müssen. Seine eigene Frau, genannt Klare Quelle, schüttelt lachend den Kopf über diese maßlose Übertreibung. Aber es stimmt, gibt sie zu: „Manche Dinge müssen wir einfach unter den Tisch fallen lassen.“ Zum Beispiel? Es wird niemand an den Marterpfahl gestellt, erklärt der Häuptling, dessen indianischer Name „der sich zum Sprung duckende Berglöwe“ bedeutet. „Aber Messerwerfen machen wir schon!“

Ein Krieger schaut zwischen den gesammelten Karl-May-Werken des Paars hervor.
Ein Krieger schaut zwischen den gesammelten Karl-May-Werken des Paars hervor. © Claudia Hübschmann
1973: Konrad Gottschalk (Zweiter von links hinten) und seine Frau Annelies (unten ganz links sitzend) mit Tochter Anita (rechts von ihr) neben Vereinsfreunden mit ihren Kindern.
1973: Konrad Gottschalk (Zweiter von links hinten) und seine Frau Annelies (unten ganz links sitzend) mit Tochter Anita (rechts von ihr) neben Vereinsfreunden mit ihren Kindern. © privat

Der 74-Jährige blickt stolz unter seinem imposanten Federkopfschmuck hervor, vier Hermelinfelle baumeln von seinen Schläfen, Stirnband, Brust und Ärmel sind mit unzähligen winzigen Perlen bestickt. Tecumseh sieht zwar aus wie ein nordamerikanischer Dakota, doch er ist nicht einmal ein echter Indianer. Im Gewand des Häuptlings steckt ein Bleichgesicht: Konrad Gottschalk aus Meißen. Zusammen mit seiner Frau Annelies schlüpft er regelmäßig in die Rolle der amerikanischen Ureinwohner. Seit mittlerweile 57 Jahren.

57 Jahre Indianerbegeisterung, die man der Wohnung des Ehepaares auf dem Meißner Schlossberg ansieht. Schon im Flur hängen große Porträts von Indianern, die Bücherregale und Vitrinen in der Stube sind voll mit Fachliteratur, kleinen Figuren, dem hölzernen Modell eines Blockhauses. Ganz oben auf einem Bücherregal: die gesammelten Werke von Karl May, sogar in doppelter Ausführung.

Fing so die Leidenschaft an? Nein, gibt Konrad Gottschalk zu. Die Karl-May-Bücher waren ein Geschenk, er und seine Frau haben kaum etwas davon gelesen. Das mit den Indianern begann anders ...

Konrad Gottschalk ist 15, lernt Straßenbauer und macht gerne Sport. Aber nach Feierabend ist ihm das irgendwann zu anstrengend und er sieht sich nach einem anderen Verein im Triebischtal um, wo er wohnt. Dort trifft er eine Handvoll Indianerfreunde, die aus dem Radebeuler Verein „Old Manitou“ ausgetreten sind und in Meißen eine eigene Gruppe gründen wollen – und lässt sich anstecken von ihrer Begeisterung.

Während in Meißen ein paar junge Frauen und Männer vom Wilden Westen träumen, wird in Berlin eine Mauer zum Westen gebaut. Bei der FDJ-Leitung ist vielleicht auch deshalb erst wenig Verständnis für das Vorhaben da. „Wir wurden gefragt, ob wir nicht lieber eine kaukasische Volkstanzgruppe gründen wollen“, erzählt Konrad Gottschalk und lacht. Ein Jahr dauert es, bis der Verein die Genehmigung bekommt. Das gute Wort des Direktors des VEB Elbdom war dafür wohl entscheidend. Die Meißner Zuckerwarenfabrik wurde zum ersten Rechtsträger des Vereins – und die „FDJ-Kulturgruppe zur Pflege des Brauchtums der Prärieindianer Meißen“ zur dritten Indianergruppe der DDR.

Als Konrad Gottschalk 18 ist, lernt er die ein Jahr ältere Annelies kennen. Mit Indianern hat diese noch überhaupt nichts am Hut. Als sie das erste Mal an einer Vorführung vor Publikum teilnehmen soll, ist ihr das furchtbar peinlich – im Publikum sitzen auch Arbeitskollegen, die sie in der Aufmachung gesehen hätten. 1966 tritt auch sie dem Verein bei.

„Das gehört eben dazu“, sagt Annelies Gottschalk heute und spielt gedankenverloren mit den Lederfransen ihres Gewands. Die Perlen an ihrem und seinem eigenen Kostüm hat ihr Mann Konrad per Hand aufgestickt, drei Jahre hat er dafür gebraucht. Seine Versuche, auch das Hirschleder zu gerben, waren weniger erfolgreich. „Die Felle habe ich begraben“, sagt Konrad Gottschalk lächelnd. Danach hätten sie das Leder immer in eine Gerberei gegeben.

Die Indianistik ist kein einfaches Hobby in der DDR. Leder und Felle sind schwer zu bekommen, genauso Perlen. Anfangs hätten sie sogar die Perlen von Lampenschirmen gesammelt, erzählt das Paar. Über Kontakte zu Tierparks erhalten sie damals Federn, die dort lebende Vögel abwerfen.

Als die Filme mit Gojko Mitic in der DDR gezeigt werden, wendet sich das Blatt: Plötzlich sind die Meißner Indianer gefragt, sollen an Umzügen teilnehmen, Vorträge halten, traditionelle Tänze und Rituale zeigen. Annelies und Konrad Gottschalk lernen Gojko Mitic kennen, eines Tages taucht er am Blockhaus des Vereins auf. Mit dem Reiseschriftsteller und Völkerkundler Erich Wustmann ist das Paar befreundet.

Mit dem Mauerfall wird der Verein eigenständig und ist es bis heute. Für die Meißner Indianer macht die Wende vieles einfacher – und manches schwieriger. Annelies und Konrad Gottschalk können nun in die USA reisen und echte Indianer treffen. In Sacramento sehen sie eine Demo von Ureinwohnern, die dagegen protestieren, dass ein Häuptling auf einer Bierflasche abgebildet wird. Viele wehren sich gegen diese Art von kultureller Aneignung. „Es gibt Indianer, die sagen: Erst haben sie uns das Land weggenommen, jetzt unsere Kultur“, erklärt Konrad Gottschalk. Auch auf Vereine wie Dakota Meißen seien die Reaktionen der Ureinwohner gemischt.

Zum Karl-May-Fest kommen heute echte Indianer, die den Besuchern ihre Kultur selbst nahebringen. Da sind Meißner Indianer nicht mehr so gefragt. Überhaupt ist die Zahl der Auftritte der derzeit noch 21 aktiven Mitglieder überschaubar. Das hängt auch damit zusammen, dass der Altersdurchschnitt „schon ein bisschen höher“ liegt, wie Annelies Konrad es ausdrückt. Kurz: Es fehlt der Nachwuchs.

Den möchten die Dakota deshalb nun gerne zu sich einladen: Interessierte Kinder im Vorschulalter können sich beim Verein melden, um in der Blockhütte in Nieschütz zum Beispiel Indianerspiele oder Tänze kennenzulernen. Schon die kleinsten Mitglieder bekommen bei den Dakota übrigens einen echten Indianernamen, den der Medizinmann vergibt. Nur Tecumseh, alias Konrad Gottschalk, hat sich seinen Namen kurzerhand selbst gegeben.

Kontakt über Christian Sparmann: 035267-54219