Von Henry Berndt
Noch wedeln sie fröhlich mit ihren Fähnchen. Hyunjoon aus Südkorea und Muthu aus Indien wissen ja nicht, worauf sie sich hier gerade einlassen. Die beiden Studenten sind zum ersten Mal auf dem Striezelmarkt und haben beschlossen, sich ein Stück von diesem wundersamen Riesenstollen da vorn zu sichern. „Aber eigentlich wollen wir nur diese Frau noch mal sehen“, sagt Hyunjoon lachend und meint Moderatorin Maira Rothe.


Die beiden stürzen sich in die Massen, das heißt, eigentlich sind sie sowieso schon mittendrin. Der Striezelmarkt gleicht in diesen Stunden am Samstagmittag einem Labyrinth. Viele Wege sind wegen der Ankunft des Stollenwagens gesperrt worden. Und drum herum wird es eng.
Trotzdem haben sich Hyunjoon und Muthu in eine gute Ausgangsposition gebracht, etwa zehn Meter zentral vor dem Objekt der Begierde. Jetzt heißt es, Bäuche einziehen und auf die Privatsphäre pfeifen. Zum Wedeln ist längst kein Platz mehr. Während der Druck von hinten langsam unangenehm wird, drängeln sich von vorn die ersten Glücklichen mit ihren Stollenbeuteln zurück. „Das ist das Härteste, was ich je erlebt habe“, sagt Hyunjoon. „Ein richtiges Abenteuer!“
Nach einer Dreiviertelstunde reckt Muthu mit letzter Kraft seine Hand mit einem Fünfeuroschein nach vorn – und bekommt endlich seine Stollentüte. „Das war es wert“, sagt er und die beiden probieren gleich mal ihre Beute.
Nur Krümel bleiben
Nur zwei Stunden nach dem Anschnitt sind nur noch Krümel vom Riesenstollen übrig, der in diesem Jahr 3,55 Meter lang, 1,73 Meter breit und 88 Zentimeter hoch war. Rund 2,9 Tonnen brachte er auf die Waage, wie der Schutzverband Dresdner Stollen e.V. stolz mitteilte. Ein Teil des Erlöses kommt in diesem Jahr dem Kinder- und Jugendbauernhof Nickern und dem Kreuzchor zugute.
Bevor auf dem Striezelmarkt sein jähes Ende kam, wurde der Stollen noch in einem Festumzug durch die Stadt chauffiert. Das 23. Dresdner Stollenfest startet am Morgen auf dem Schloßplatz mit allerlei Oden auf den Stollen und seine Macher. Von Anfang an ist die Treppe zur Brühlschen Terrasse gut gefüllt. Auf der Bühne turtelt August der Starke mit der Moderatorin. Kurz vor dem Start der Parade singt dann noch ein Kinderchor ein zuckersüßes Stollenlied. Dabei halten die Zuschauer den Kleinen ihre Smartphones so nah vor die Nase, als wären es schon ihre Weihnachtsgeschenke.
„Ich will das Lied hören“, schimpft ein Mädchen auf den Schultern ihres Papas. Doch der bringt sich gerade schon in Stellung für einen guten Platz beim Umzug. Mit dabei sind neben Bäckern und Müllern auch Schornsteinfeger, Klempner (samt rollender Toilette) und Metallbauer. Insgesamt mehr als 500 Teilnehmer in 22 aufwendigen Bildern. Vor dem Start wärmen sich die kurzberockten Mädchen aus dem Dresdner Spielmannszug noch gegenseitig. Auch für den Stelzenmann wird noch eine Jacke gesucht. Derweil drängelt sich eine Gruppe chinesischer Touristen kopfschüttelnd durch einen Soldatenzug.
Und dann geht’s endlich los. Schon am Fürstenzug vorbei wird es eng, überall entlang der Strecke winken Hunderte Zuschauer mit ihren Handys und müssen hier und da auch von der Polizei ermahnt werden. „Bitte halten Sie Ihre Kinder fest“, schallt es immer wieder aus dem Einsatzwagen. Viele der Kleinen wurden von ihren Eltern mit großen Tüten ausgestattet und sind auf der Jagd nach fliegendem Stollenkonfekt. Bei der zweiten Runde durch den Fürstenzug steht dann auch noch ein parkendes Auto im Weg. „Die Karre weg, aber schnell!“, raunzt ein Sicherheitsmann seine Kollegin an.
Eine halbe Stunde später ist das alles vergessen, als August Starke auf dem Striezelmarkt diesen sonnigen „Tag wie Samt und Seide“ lobpreist. „Das ist das wirkliche Dresden“, stimmt Landwirtschaftsminister Thomas Schmidt (CDU) mit ein. „Das sind die Bilder, die in die Welt hinausgehen sollen.“ Im Endeffekt geht es wohl auch vielen der Hunderten, die sich währenddessen um ein Stück vom Riesenstollen balgen, auch gar nicht um die Kalorienbombe selbst. Sondern einfach um eine Tüte Stolz und Heimatliebe.