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„Die Kinder werden in ihrer Entwicklung blockiert“

Die Ausländerbeauftragte Kristina Winkler über Flüchtlingskinder, die in Dresden nicht zur Schule gehen dürfen.

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© dpa

Frau Winkler, in den Dresdner Erstaufnahm-erichtungen (EAE) leben Kinder, die schon seit Monaten nicht in die Schule gehen können. Was sagen Sie dazu?

Die Ausländerbeauftragte Kristina Winkler
Die Ausländerbeauftragte Kristina Winkler © René Meinig

Das ist eine Katastrophe, dass so etwas in unserem Land möglich ist. Das Recht auf Bildung ist elementar und gilt für alle Kinder auf der Welt. Verankert ist das im internationalen Recht.

In Chemnitz lief ein Modellprojekt für die Beschulung von Kindern in den EAE, ersetzt das einen normalen Schulbesuch?

Auf keinen Fall. Viele Standards von Schule gelten dort nicht. Es werden nur wenige Fächer unterrichtet. Es ist nicht klar, wie viele Kinder eine Klasse bilden. Die Altersspannen sind sehr groß.

Was heißt das genau?

Die Kinder werden in großen Gruppen, wie z. B. die Sechs- bis Zehnjährigen, zusammen unterrichtet. Zwischen diesen vier Jahren liegen aber Welten. Das Modellprojekt ist eine gute Vorbereitung auf die Schule in den ersten drei Monaten des Aufenthalts. Danach greift das Schulrecht.

Seit Monaten wird von verschiedenen Seiten auf das Problem hingewiesen. Warum passiert nichts?

Mein Eindruck ist, dass sich die Landesbehörden den Ball immer wieder hin- und herschießen.

Andere Bundesländer zeigen, dass die Beschulung in den EAE durchaus möglich ist ...

Genau, in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Hamburg oder im Saarland, um nur einige Beispiele zu nennen, gehen die Kinder in die Schule. Ausgerechnet Sachsen, das sich immer als Bildungsvorreiter rühmt, hinkt hinterher.

Was kann die Stadt tun? Denn die EAE sind ja Ländersache ...

Es gibt Gespräche. Der Jugendamtsleiter Claus Lippmann setzt sich engagiert für die Beschulung ein, und der Stadtrat hat im Zuge der Diskussion um die Ankerzentren den Oberbürgermeister beauftragt, sich für die Umsetzung des Schulrechts einzusetzen.

Immer wieder, auch bei den bettelnden Kindern, wurde argumentiert, für Kinder ohne festen Wohnsitz gilt die Schulpflicht nicht. Kann man hier keine Lösung finden?

Natürlich würde es die geben. Dresdner Obdachlose können sich zum Beispiel bei einem freien Träger eine Post-Adresse einrichten lassen. Nach diesem Modell könnte man auch das Wohnsitz-Problem anpacken. Und auch ohne Schulpflicht gibt es das Schulrecht.

Was würden Sie sich wünschen?

Ideal wäre, wenn die Kinder außerhalb der Flüchtlingsunterkünfte nach drei Monaten in Regelschulen gehen. Wenn das nicht geht, dann wäre auch der Unterricht in der EAE im Sinne einer Außenstelle einer benachbarten Schule denkbar.

Wie viele Fälle von Kindern, die länger als die vorgesehenen drei Monate in den EAE leben, sind Ihnen bekannt?

Es gibt immer wieder neue Fälle, manche sind sechs Monate und länger dort.

Konnten Sie sich schon selbst ein Bild von den Zuständen in der Hamburger Straße machen?

Persönlich nicht, aber ich höre immer wieder Berichte von den Zuständen dort. Die Kinder laufen den ganzen Tag über die Gänge, es ist laut, eng und trostlos. Die Menschen haben Langeweile, sind frustriert, weil sie nicht wissen, wie es weitergeht.

Das führt natürlich auch zu Konflikten?

So ist es.

Wenn die Kinder täglich diesen Konflikten und den beengten Zuständen ausgesetzt sind, ist das nicht schon Kindeswohlgefährdung?

Man kann von struktureller Kindeswohlgefährdung sprechen. Sie geht also nicht von den Eltern aus, sondern von den Zuständen. Die Kinder werden in ihrer Entwicklung blockiert.

Das Gespräch führte Julia Vollmer