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„Die kommen nicht durch mit der Tour“

Mit einem neuen Justiz-Modell will Jugendrichterin Kirsten Heisig in Berlin prügelnde und klauende Jugendliche erziehen.

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Von Jutta Schütz

Der junge Berliner mit dunkler Hautfarbe hat sich zu seinem Prozess im Amtsgericht Tiergarten extra in einen Anzug geworfen, um Eindruck zu schinden. Doch nicht mit Jugendrichterin Kirsten Heisig. „Wenn Sie hier noch mal aufschlagen, ist Schluss mit lustig“, sagt sie ganz freundlich zu dem schmächtigen Mann mit dem Lockenkopf. Der 19-Jährige gibt sich lässig: „Das höre ich ja zum ersten Mal, dass ich den Busfahrer verletzt habe.“ Doch die Richterin bleibt unbeindruckt. „Alkohol, Canabis, Valium – Sie waren richtig voll und sind ausgetickt. Das ist ja nicht das erste Mal. Besonders reif ist das nicht.“

Gewaltspirale stoppen

Die selbstsichere Fassade bröckelt. „Ja, ich versuche mich zu bessern“, sagt der junge Mann zum Schluss leise und blickt nur noch angestrengt nach unten. Er bekommt seine allerletzte Chance und für ein Jahr einen Betreuer. Beim nächsten Delikt droht ihm Knast.

An diesem Montag stehen ab 9Uhr zwölf Prozess-Termine auf der Liste von Kirsten Heisig. In neun Fällen haben die Angeklagten ausländische Namen. Der Tag ist keine Ausnahme an diesem Berliner Amtsgericht. „Es wird viel gelogen vor Gericht – Deutsche ebenso wie Migranten“, sagt die 48-jährige Richterin in Jeans und schwarzer Robe. Doch Kirsten Heisig ist nicht verzweifelt oder deprimiert. Sie ist eine Kämpferin. Sie hat etwas in Bewegung gesetzt, dass die schreckliche Spirale von Gewalt, Respektlosigkeit und Verwahrlosung stoppen soll und woran sie glaubt.

Vereinfachtes Verfahren

Das Zauberwort heißt Neuköllner Modell und ist längst über Berlin hinaus bekannt. In dem sozialen Brennpunkt Neukölln ist nicht nur die Arbeitslosigkeit hoch, der Problemkiez wird auch mit Jugendgewalt in Verbindung gebracht. Rund 50000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben hier. Mit einem Anteil von 23 Prozent Zuwanderern gilt der Bezirk als schwierig. Knapp 60000 der rund 300000 Einwohner können ihren Lebensunterhalt nur mithilfe staatlicher Sozialleistungen bestreiten.

Die für den Bezirk zuständige Richterin hatte es satt, dass vor allem junge Männer, die in Supermärkten klauen oder Lehrer angreifen und bespucken, Jüngere „abziehen“ und Telefonzellen demolieren, erst Monate später vor ihr auf der Anklagebank saßen und sich nicht mehr erinnern konnten.

„Wenn meine Töchter ihre Zimmer nicht aufräumen, kann ich nicht drei Wochen später Fernsehverbot erteilen – das bringt gar nichts“. Schnell nach der Tat müsse die Strafe folgen, um wenigstens noch die Chance zu haben, den Delinquenten innerlich zu erreichen, fand Kirsten Heisig und rannte bei der Polizei offene Türen ein. Mit einem vereinfachten und beschleunigten Verfahren soll die Gesellschaft den Jugendlichen auch bei Alltagskriminalität unmissverständlich zeigen: „Das nehmen wir nicht hin.“ Wer auffällig wird, muss inzwischen davon ausgehen, dass Polizei, Jugendhilfe, Staatsanwaltschaft und Jugendrichter nicht nur seine jüngste Verfehlung kennen, sondern auch die davor. Denn es sind dieselben Leute, die die Akte des jugendlichen Kriminellen jedes Mal wieder in die Hand bekommen und den Fall samt Vorgeschichte kennen. So bleibe nichts verborgen und es müsse nicht immer wieder alles von vorne ermittelt werden. Die vereinfachten Verfahren könnten dann idealerweise innerhalb von drei bis vier Wochen vor Gericht kommen. „Das hat dann erzieherische Wirkung“, glaubt Kirsten Heisig. Ihre Urteile: Gemeinnützige Arbeit, ein Gespräch mit dem Opfer, ein Anti-Gewalt-Kurs oder auch Jugendarrest. „Die Jungs sollen merken, sie kommen nicht durch mit der Tour.“

Ab Juli in ganz Berlin

Was vor zwei Jahren startete und vielleicht noch wie eine einsame Mission aussah, hat Schule gemacht. Jetzt haben Polizei und Justiz angekündigt, das Neuköllner Modell ab Juni überall in Berlin anzuwenden. Stufenweise wurde die schnellere Ahndung kleinerer Delikte erweitert. Denn die Probleme betreffen nicht nur Neukölln.

Kirsten Heisig ist stolz, dass ihre Ideen angenommen wurden. „Die Behörden klettern aus ihren Elfenbeintürmen und kooperieren. Das ist gut.“ Wie viele ihrer Kollegen will sie es nicht akzeptieren, dass Jugendliche den „Staat nicht mehr ernst nehmen, seine Autorität nicht anerkennen.“

Dort, wo alles begann, im Polizeiabschnitt 55 in Neukölln, sagt der Polizist Steffen Dopichay: „Frau Heisig schickt uns auch Faxe mit dem Urteil. Das motiviert, wenn wir wissen, was aus den Jugendlichen geworden ist, die wir festgenommen haben.“ Im Kiez habe sich herumgesprochen, dass der Staat nicht bloß zuschaut.

Der Erfolg und ihre Popularität haben Kirsten Heisig nun in gewisser Weise eingeholt. „Ich hab keine Freunde hinzugewonnen. Ich fühle mich oft als Exot wahrgenommen. Das sagt mir zwar keiner ins Gesicht, das läuft so verdeckt. Der Vorwurf, ich sei ganz wild auf Öffentlichkeit, trifft mich und macht mir schon zu schaffen.“ Sie habe nicht erwartet, dass ihre Vorstellungen solche Kreise ziehen.

Die Frau, die schon als Kind Richterin werden wollte, gesteht ein, dass sie oft mit der Tür ins Haus falle, alles sofort wolle und andere verschrecke. „Ich bin nicht diplomatisch“, sagt sie. So rechnet sie auch mit kontroversen Reaktionen, wenn im Sommer ihr erstes Buch über ihre Erfahrungen erscheint.

Es sei noch längst nicht alles in den richtigen Bahnen, sagt Kirsten Heisig. So hält sie das Schreiben der Berliner Bildungsverwaltung, wonach Sachbeschädigungen an Schulen nicht mehr gemeldet werden müssen, für „eine absolute Katastrophe“. „Alle Vorfälle an Schulen müssen angezeigt werden, auch wenn das die Statistik verschlechtert“, sagt sie Mit so einem Signal müssten sich Lehrer ja sonst völlig alleingelassen vorkommen (dpa)