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Die Kummer-Kümmerin

Heilpraktikerin Annette Wippler war Stadtplanerin in München. Dort fehlte ihr die Nähe zum Menschen. In Meißen wird sie fündig und erfindet sich neu.

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© Claudia Hübschmann

Von Marcus Herrmann

Meißen. Das Leben hält für Jeden Wendepunkte bereit. Manchmal, sagt Annette Wippler, 35 Jahre alt, schulterlanges braunes Haar, Brille mit dezent-dunklem Gestell, gibt es davon gleich mehrere. Manchmal sind es wenige, die dafür umso prägender wirken. Ob man diese Wendungen des Lebens aber als Chance oder Verlust sieht – das sei jedem selbst überlassen. „Ich kann vielleicht dabei helfen, mit ihnen besser umzugehen“, erzählt Wippler. Sie ist Heilpraktikerin, hat ihre Praxis in der Meißner Innenstadt am Nicolaisteg 6. Die Räume direkt neben dem neuen Aldi-Markt durchströmen angenehme Düfte. Ein Hauch von Sauna-Aufguss liegt in der Luft.

Im Behandlungszimmer empfangen den Patienten weiß gestrichene Wände mit großflächigen Bildern daran. Von Bäumen, Gräsern, Wasser und Licht. Neben einem Schreibtisch und zwei Regalen ist eine Liege aufgestellt. „Die Leute kommen mit Rückenschmerzen, Darmbeschwerden, Allergien. Aber auch mit seelischen Problemen“, sagt die gebürtige Meißnerin, die in Riesa aufgewachsen und zur Grundschule gegangen ist. Auf der Liege massiert Wippler Patienten mit Wirbelsäulen- oder Gelenkerkrankungen. Auch Ohr-Akupunktur – ein gutes Mittel gegen Schlafstörungen oder Schmerzen – hat sie in petto.

In ihrer Naturheilpraxis gehören zudem Behandlungen mit Blutegeln oder die Methode des Schröpfens zum Angebot. „Dabei wird mithilfe von Unterdruck, der durch aufgesetzte Schröpfgläser entsteht, die Haut und das darunter befindliche Gewebe angehoben. Die Durchblutung und der Lymphfluss werden verbessert“, erklärt Wippler. Doch funktionieren diese Methoden? Sind sie das Geld wert? Immerhin übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen keine Leistungen des Heilpraktikers, anders als viele private.

Von der Schulmedizin werden Heilpraktiker oft argwöhnisch beäugt. Annette Wippler, die in ihrer Praxis meistens ein grünes Oberteil zu weißer Hose trägt, lächelt über die Zweifel hinweg. Nicht nur, weil sie gerne und viel lacht. Sondern, weil sie von ihrer Sache überzeugt ist. Wie sie zu dieser Überzeugung kommt, hat etwas mit ihrem Lebenslauf zu tun. Und den Wendepunkten darin.

Nach der Grundschulzeit in Riesa ziehen Wipplers Eltern mit ihr und ihrem drei Jahre älteren Bruder nach Meißen. Hier hatten der Urgroßvater und Großvater jeweils in der Fleischerei Arndt Wippler gearbeitet. Doch Annettes Vater, der ebenfalls eine Ausbildung als Fleischer absolviert hatte, steigt nicht etwa ins Geschäft ein. Er hat zu dieser Zeit längst seine Leidenschaft für die Medizin entdeckt, in Berlin und Dresden studiert. In eben jenem Haus, wo sich heute das Geschäft der Tochter befindet, baut der Vater eine urologische Praxis auf. Wipplers Mutter arbeitet als Arzthelferin mit in der Praxis. Währenddessen beginnt für Annette der Weg zum Abitur an der Meißner Neumarktschule. Sie interessiert sich für Geografie, will wissen, woraus die Welt besteht, hinterfragt vieles.

Terroranschlag eine Stunde entfernt

2001 schließt Wippler ihr Abitur ab. Jetzt erst einmal weit weg, was anderes kennen lernen, einfach mal ausbrechen! Ihr Entschluss steht fest. Für ein Jahr wird sie als Au-pair an die Ostküste der USA gehen.

Es ist der 11. September 2001, der Tag, an dem Terroristen zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Center steuern. Eine gute Autostunde entfernt sitzt Annette Wippler bei ihrer Gastfamilie. Seit sechs Wochen ist sie zu diesem Zeitpunkt in Amerika. Sie glaubt, im Fernsehen laufe der immer gleiche Film. Bis eine Freundin sie auf dem Handy erreicht. Das sind die Nachrichten. Die Realität, keine Fiktion. Wippler ist schockiert, erst drei Tage zuvor hatte die damals 19-Jährige in der Millionenmetropole Zeit verbracht. Es ist ein Wendepunkt.

„Der Anschlag machte mein Vorhaben endgültig, bestärkte mich. Ich wusste: Ich muss hier weg.“ Ende September fliegt Wippler den Staaten davon. Das Jahr als Au-pair bricht sie ab. Dass sie sich in der Gastfamilie nie willkommen fühlte, es Probleme gab, nagt an der sensiblen jungen Frau. Und dann noch dieser Anschlag.

„Zurück in Deutschland habe ich ein Geografiestudium in Bayreuth und Tübingen begonnen“, erinnert sich Wippler. Mit Mitte 20 hat sie das Diplom in der Tasche. Der erste Job zieht sie wenig später nach München. Dort ist sie als Geografin in der Stadtplanung tätig. Das Studium hatte sie „einfach durchgezogen“, wie es die Meißnerin nennt. Am Arbeitsplatz läuft es ähnlich. Eigentlich ist alles gut. Man macht halt, verdient Geld. Aber irgendetwas fehlt. „Ich war an der Welt interessiert. Aber das Große und Ganze entfaltete sich nicht vor mir. Mir fehlte außerdem die Nähe zum Menschen.“ Auch geliebte Hobbys wie Klavierspielen oder Gedichte schreiben können dieses Gefühl nicht kompensieren. Doch was tun? Wippler wusste von sich: Sich in jemanden einfühlen, zuhören, mitfühlen, helfen. Das sind ihre Stärken.

Das hatte sie schon als Vertrauensschülerin in frühester Jugend unter Beweis gestellt. Etwas Soziales sollte es also sein. Über das Internet informiert sie sich. Und landet auf einer Homepage bei der Heilpraktiker-Ausbildung.

Zwei Jahre besucht sie Vollzeit-Kurse an der Dresdner Heilpraktikerschule Paracelsus, muss in eine schriftliche und eine mündliche Prüfung. Die Durchfallquote liegt bei über 80 Prozent. Die Ausbildung kostet mehrere Tausend Euro. „Das war wirklich knackig“, findet Wippler rückblickend. „Aber ich stand plötzlich zu 100 Prozent dahinter, war fasziniert von den Lerninhalten, vom menschlichen Körper und wie er funktioniert.“ Wieder so ein Wendepunkt. Wippler schafft die Ausbildung auf Anhieb.

Nach dem 2013er-Hochwasser räumt sie langsam eine eigene Praxis ein, richtig los geht es erst Ende 2014. Desinfizieren und steriles Arbeiten sind ihr tägliches Brot. Immerhin darf die 35-Jährige bei bestimmten Therapien auch Spritzen geben.

Seit neuestem bietet Wippler eine Kummersprechstunde an. „Egal ob Liebeskummer, Einsamkeit, Trauer oder Lebenskrisen. Manchmal hilft es ungemein, einer außenstehenden Person seine Probleme zu schildern, damit wieder Ordnung in den Kopf und das Herz kommt“, beschreibt sie das Angebot.

Da sie ohnehin viel Persönliches der Patienten erfahre, sieht sie die Sprechstunde als Weiterführung. Die Beratung kostet 60 Euro pro Stunde. Aber: „Um ein vertrauensvolles Miteinander aufzubauen, muss man sich zunächst kennenlernen. Deshalb sind die ersten 20 Minuten als Erstgespräch kostenlos. Wenn die Chemie nicht stimmt, ist das so und auch völlig in Ordnung“, sagt Annette Wippler.

Als Heilpraktikerin ist sie in Meißen übrigens in guter Gesellschaft. Mehr als zehn Praxen mit dieser Bezeichnung gibt es in der Stadt. Ein Wendepunkt? Nicht in Sicht.

www.kummer-meissen.de