Merken

Die letzte Reise der Dampflok

Der tonnenschwere Koloss zog am Montag vom Bautzener Bahnhof an die Packhofstraße. Ein Spektakel mit Überraschungen.

Teilen
Folgen
© Uwe Soeder

Von Marleen Hollenbach

Die gelbe Warnweste ist seine Eintrittskarte. Mit ihr darf Florian Ritscher hinters Absperrband. Dorthin, wo die Männer mit ihren Helmen stehen, ganz nah ran an die alte Dampflok. Der Elfjährige holt das Handy aus der Tasche. Er muss sich beeilen, denn die Lok hängt schon an vier dicken Seilen. In wenigen Sekunden werden die 85 Tonnen hochgezogen. Dass die Männer neben ihm quatschen, merkt der Junge nicht mehr, so gebannt blickt er nach oben. Dann wird um ihn herum alles still.

Ein paar Bilder vom Umsetzen der Lok

Der jüngste Lok-Fan bekommt einen Ehrenplatz. Der elfjährige Florian aus Bautzen spendete sein Taschengeld für den Umzug.
Der jüngste Lok-Fan bekommt einen Ehrenplatz. Der elfjährige Florian aus Bautzen spendete sein Taschengeld für den Umzug.
Zwei Kräne und vier Seile braucht es, um die mehr als 80 Tonnen schwere Dampflok anzuheben.
Zwei Kräne und vier Seile braucht es, um die mehr als 80 Tonnen schwere Dampflok anzuheben.
Das Aufladen ist Millimeterarbeit. Vorsichtig wird die alte Dampflok vom Bautzener Bahnhof auf den Tieflader hinuntergelassen. Schon um 6 Uhr begannen am Montag die ersten Vorbereitungen für den Umzug.
Das Aufladen ist Millimeterarbeit. Vorsichtig wird die alte Dampflok vom Bautzener Bahnhof auf den Tieflader hinuntergelassen. Schon um 6 Uhr begannen am Montag die ersten Vorbereitungen für den Umzug.
Zehn Achsen hat der Tieflader, der die Lok zu ihrem neuen Standort bringt. Los ging die Reise an der Bahnhofsstraße.
Zehn Achsen hat der Tieflader, der die Lok zu ihrem neuen Standort bringt. Los ging die Reise an der Bahnhofsstraße.

Die Dampflok hebt ab, schwebt hinüber zum Tieflader, der mitten auf dem Bahnhofsgelände in Bautzen steht. Florian rückt schnell seine Eisenbahnermütze zurecht. Der Umzug der Lok, das ist auch seine Geschichte. Der junge Bautzener hat sogar sein Taschengeld gespendet. „Ich mag einfach Dampfloks und diese hier gefällt mir am besten“, sagt er. Zwei Stunden musste er heute in die Schule. Danach mischte er sich unter die vielen Zuschauer, beobachtete, wie die Kräne aufgebaut, wie erst der Tender und dann auch die Lok von den alten Schienen gehoben wurden. „Der Umzug dauert schon sehr lange, aber ich denke, dass alles gut klappen wird“, sagt er.

Der größte Wunsch von Heiner Schleppers

Dass der Transport gelingt, wünscht sich auch Heiner Schleppers. Man könnte auch sagen, es ist sein größter Wunsch. Der Bautzener hat gemeinsam mit den Eisenbahnfreunden dafür gesorgt, dass der Koloss jetzt, wo der Bahnhofsvorplatz saniert wird, nicht einfach der Schrottpresse zum Opfer fällt. Der Umzug der Lok, das ist auch seine Geschichte. Ihm ist es zu verdanken, dass es für die Lok an der Packhofstraße einen neuen Standort gibt. Ein halbes Jahr Planung und viele schlaflose Nächte liegen hinter ihm. Doch davon sieht man dem CDU-Stadtrat nichts an. Seit drei Uhr ist er wach, seit sechs Uhr dreht er auf dem Bahnhofsgelände Kreise. Schleppers vertreibt jene, die hinters Absperrband klettern, begrüßt Bekannte, beantwortet Fragen. Mal steht er vor einer Fernsehkamera, dann spricht er in ein Mikrofon. Zwischendurch blickt er skeptisch auf die Uhr. Das Verladen hat Zeit gekostet. Erst mussten Falschparker abgeschleppt werden, dann machte der blaue Wasserkran neben der Lok Probleme. Die Schrauben ließen sich nicht lösen. „Man plant alles, doch am Ende hängt es an den kleinen Dingen“, meint Schleppers, der nur nach vorn blicken will. Die Lok ist bereit für ihre große Fahrt.

Aufbauen, abbauen, aufbauen – langsam kommt auch bei Enrico Bräuer ein wenig Hektik auf. Der Bereichsleiter der Firma Felbermayr ist für die zwei großen Kräne zuständig. Zwar haben seine Mitarbeiter den schwierigsten Part hinter sich – die Lok ist nicht abgestürzt und auch nicht auseinandergebrochen – doch es bleibt stressig. Der Umzug der Lok, das ist auch seine Geschichte. Alle Augen sind jetzt auf Bräuer gerichtet. Erst wenn seine Kranfahrzeuge und seine Laster den Bahnhof verlassen haben, kann der Tieflader mit der Lok starten. Und jetzt regnet es auch noch. Doch Bräuer ist Profi, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Seine Fahrzeuge rollen langsam los. Der Tieflader folgt, erst im Schritttempo, dann immer schneller. So schnell, dass die Menschen, die den Tross begleiten, kaum noch hinterherkommen. Begeistert sind sie trotzdem. „Wahnsinn“, sagt eine Frau. „Super, toll“, findet ein Mann. Der Umzug der Lok, das ist auch ihre Geschichte. Insgesamt 40 000 Euro haben die Bautzener gespendet, um ihre Lok zu retten. Für viele ist sie ein Stück Heimat geworden. Fast 30 Jahre lang begrüßte der Koloss jeden, der am Bahnhof ausstieg. Kaum einer, der keine Geschichte über ihn erzählen kann.

Lok kam 1964 nach Bautzen

Eine besondere Verbindung zur Lok hat Dieter Grosche. Der ehemalige Eisenbahner ist früher selbst mit der Lok gefahren. In den 80er-Jahren war das. Der Umzug der Lok, das ist auch seine Geschichte. Dieter Grosche weiß, dass die Dampflok 1964 nach Bautzen kam und 1986 wegen einem Schaden am Kessel aus dem Betrieb genommen wurde. Er war dabei, als man die Lok neben das Bautzener Bahnhofsgebäude stellte. „Ich dachte damals, dass sie dort für immer bleiben würde“, sagt er und blickt zur Brücke hinüber. Dort, an der Neusalzaer Straße, kommt der Tross an die gefährlichste Stelle der Reise.

Bis zuletzt hatten Statiker geprüft, ob die Brücke den Tieflader halten kann. Und sie haben sich nicht verrechnet. Hinterm Absperrband beobachtet Dieter Grosche, wie es die Lok auf die andere Seite schafft. Dann wartet er an der Packhofstraße aufs Abladen. Das übernimmt Enrico Bräuer, der am späten Nachmittag zufrieden resümiert: „Alles hat gut geklappt.“ Auch Florian ist froh. „Ich werde die Lok oft besuchen und helfen, damit sie wieder schön aussieht“, verspricht er. Und Heiner Schleppers? Der hat rote Wangen vor Freude. Am Abend will er entweder Sekt trinken oder gleich Schlafen gehen. „Mal sehen, ob das wirklich die letzte Reise der Lok war“, sagt er zum Abschied. „Vielleicht finden wir ja doch noch einen besseren Platz.“