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Die letzten 297 Tage im ersten Leben von Stanislaw Tillich

Aus den Akten und aus der Erinnerung – Sachsens Ministerpräsident als Stellvertretender Vorsitzender für Handel und Versorgung im Kreis Kamenz

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Von Gunnar Saft

Der berufliche Aufstieg des Sorben Stanislaw Tillich findet in einem Nebengebäude der DDR-Kreisverwaltung Kamenz statt. Im Mai 1989 zieht der 30-jährige politische Mitarbeiter ins Nachbarzimmer um – und ist nun Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises für Handel und Versorgung. Ein langer Titel. Ins kleine Büro passen trotzdem nur ein Schreibtisch und ein Tisch für Beratungen.

Was zu dem Zeitpunkt niemand ahnt: Die DDR existiert nach Tillichs Zimmerwechsel nur noch 16 Monate. Und der neue Versorgungschef wird ganze 297 Tage im Amt bleiben. Stanislaw Tillich, studierter Ingenieur, Lehrgangsteilnehmer an der Potsdamer Akademie für Staat und Recht und CDU-Mitglied, weiß das nicht. Dafür kennt er seine neue Aufgabe: Das wenige so gerecht wie möglich verteilen. Heute spricht er häufig von einem „Schwarzen-Peter-Posten“, den die SED gern an Mitglieder der Blockparteien abschob. Damals will sich Tillich trotzdem Mühe geben.

Täglich Plastikdosen gesucht

Was folgt, sind 297 Tage im DDR-Staatsapparat, die ihn als sächsischen CDU-Chef und Ministerpräsidenten heute unter Druck setzen. Die Debatte über Tillichs Vergangenheit entscheidet nun mit über seine Zukunft. Die SZ ging auf Spurensuche. In Akten und im Gespräch mit Stanislaw Tillich selbst.

Es ist zunächst nicht alles schlecht. Im Mai 1989 erfüllt die Kamenzer HO den Plan im sozialistischen Einzelhandel mit 100,6 Prozent. Auch bei Milch, Eiern und Schlachtvieh liegt man im Plus. Das Blutspendewesen, so berichtet der Kreisarzt dem Rat stolz, hat sogar ein Ergebnis von 113,8 Prozent erzielt. Doch der Anfang vom Ende findet im Mai 1989 schon Eingang in die Sitzungsprotokolle des Rates des Kreises: Blieben 1984 nur 416 Bürger der Kommunalwahl fern, so haben nun 1200 ihren Stimmzettel ungültig gemacht. Der Rat beschließt einstimmig, „unmittelbare Schlussfolgerungen zu ziehen“. Welche, das steht nicht dabei.

Auch das Protokoll vom 26. Mai, dem Tag, an dem Stanislaw Tillich erstmals in neuer Funktion an den Sitzungen teilnimmt, enthält Ärger. Es geht wieder einmal um die Gaststätte auf dem Kamenzer Hutberg. Ein Gastronom aus Berlin hat das Lokal erst vor sechs Monaten übernommen. Nun häufen sich die Probleme: Schulden, nicht eingehaltene Öffnungszeiten, Streit mit staatlichen Kontrolleuren. Der Rat stimmt dafür, dem Betreiber die Lizenz zu entziehen. Und Tillich unterschreibt. Zwanzig Jahre später wird der geschasste Gastronom öffentlich erklären, für sein Aus habe es politische Gründe gegeben. Tillich wird auf die Akten verweisen.

Aber auch davon ahnt das neue Ratsmitglied für Handel und Versorgung nichts. In den nächsten Wochen steigt Tillich vielmehr jeden Werktag 6.15 Uhr in den Linienbus von Panschwitz-Kuckau nach Kamenz. Der Dienstwagen beim Rat des Kreises – meist ein Wartburg – steht ihm nur für Kontrollfahrten durch den Kreis zur Verfügung. Ein Privatauto besitzt der zweifache Familienvater, der in seinem Amt nun 1500 DDR-Mark verdient, noch nicht.

Und schnell steckt Tillich im real existierenden Verwaltungsalltag, bei dem er meist wenig ausrichten kann. Im Sommer 1989 fehlen Plastikdosen für Fleischsalat, außerdem 6-Volt-Glühlampen für Autos, und nicht zuletzt beschweren sich etliche Bürgermeister, dass ihre Gemeinden keine Feinfrosterzeugnisse und kein Eis geliefert bekommen. „Ich bin trotzdem herumgefahren, habe mich wirklich gekümmert.“ Doch umsonst. Im Juni erfüllt die HO den Plan nicht mehr.

Ein rechtswidriger Akt

Gleichzeitig wird der Ton auf den Ratssitzungen ernster. Die bedeuten für Tillich meist stundenlanges Zuhören. „Zu Beginn habe ich meinen Bericht abgegeben und war dann froh, wenn ich nicht mehr drangekommen bin. Ich hatte ja ohnehin nichts zum Verteilen.“

Am Ende hebt er aber meist die Hand, wenn abgestimmt wird. So auch am 6. Juli, als der Rat des Kreises den Entzug des Eigentumsrechts an dem privaten Flurstück 1165/1 beschließt. Fünfmal wird Stanislaw Tillich auf diese Weise der Enteignung von „Westgrundstücken“ zustimmen. Ein rechtswidriger Akt, wie Behörden nach der Wende in einem der Fälle entscheiden. Tillich kann sich nicht mehr an die Tagesordnungspunkte erinnern. Auch deshalb wird es zwanzig Jahre später negative Schlagzeilen hageln. 1989 dagegen kennt man so etwas im Rat des Kreises nicht, im Gegenteil: Sollen die Bürger Details aus den Ratssitzungen erfahren, genügt ein Beschluss und es steht in der Lokalausgabe der „Sächsischen Zeitung“. Sollen sie nichts erfahren, gibt es keinen Beschluss. Niemand muss sich vorerst Sorgen machen, dass das mal nicht funktioniert.

Doch wie brisant mittlerweile die politische Lage im Kreis Kamenz ist, zeigt die Sitzung am 3. August. Eigentlich kann sich Stanislaw Tillich an diesem Tag freuen. Im Juli lag die HO mit 105,8 Prozent wieder im Plan. Zudem berichtet der Direktor des VEB Kühlbetrieb von Speiseeis-Transporten, die bald ankommen sollen. Nicht zuletzt steht der Jahresurlaub an. Mit seiner Frau Veronika und den Kindern Dana und Milan will er zu Freunden ins polnische Riesengebirge fahren.

Doch zunächst müssen sich alle Anwesenden schriftlich verpflichten, über den folgenden Tagesordnungspunkt 2.2 in der Öffentlichkeit zu schweigen. Es geht um die Verordnung 192 vom 30.November 1988. Die Details erklärt der Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres: Rechtzeitige Informationen über die Stellung von Ausreiseanträgen aus der DDR, bessere Vorfeldarbeit, Einflussnahme auf Betriebsleiter, Zurückdrängung und Verhinderung von Übersiedlungsanträgen. Alle Ratsmitglieder werden mit einer „tiefgründigen Einschätzung“ beauftragt, wie die Verordnung künftig anzuwenden ist.

Alarmtraining und Hilferufe

Den Lauf der Geschichte hält damit niemand auf. Auch nach dem Urlaub bekommt der Stellvertreter für Handel und Versorgung Anrufe mit Signalwirkung. Am Apparat ist unter anderem der Verantwortliche vom Konsum. Die Botschaft lautet: „Es sind wieder drei Bäcker weg.“ Tillich sucht sofort nach Ersatz. „Finden Sie aber mal jemanden, der Brot und Brötchen backen kann. Von jetzt auf gleich. Das ist verdammt schwer.“ Zweimal fragt auch die Stasi nach. Einmal, weil Brot in den Läden fehlt. Einmal, weil im Nachbarbüro ein Dienstsiegel beschädigt ist. Dazu steht in den Kamenzer Akten nichts. Warum? 20 Jahre später ist auch diese Frage ein Politikum.

Inzwischen ist es September. Stanislaw Tillich besucht einen Lehrgang für Gesundheits- und Arbeitsschutz. Eine Routine-Schulung. Im Rat des Kreises bereiten seine Kollegen die Planzahlen für 1990 vor. Da gibt es für sie eine schriftliche Warnung. Vom 6. bis zum 10.Oktober werde es in Kamenz zu verstärkten Kontrollen kommen. Die Begründung: Es seien wieder mehr „provokatorische Losungen“ aufgetaucht. Auch wird ein Alarmtraining angekündigt – nur Schwangere sind befreit. Noch funktioniert das System.

Aber auch das Ratsmitglied Tillich spürt die allgegenwärtigen Auflösungserscheinungen. Dass es „den Bach unter geht“, ist ihm klar, als sich die Meldungen über die deutsche Botschaft in Prag häufen. Tausende DDR-Bürger hatten sich bereits dorthin geflüchtet. Bis zur Öffnung der Mauer sind es jetzt nur noch wenige Wochen.

In Kamenz werden die Sitzungen kürzer, und in den Protokollen tauchen neue Hinweise auf: Bürgeranliegen müssen ernster genommen, Versorgungsengpässe schneller behoben werden. Am 4. November findet ein Bürgerforum im Haus „Stadt Dresden“ statt. Auch Stanislaw Tillich nimmt daran teil. Der Rat des Kreises hatte zuvor beschlossen, dass man sich den „neuen Problemen stellen muss“.

Wie man das machen will, wird auf einer Sondersitzung am 9. November festgelegt. Die beginnt wie üblich. Dem Stellvertreter für Inneres wird für seine 35-jährige Tätigkeit im Staatsapparat gedankt. Doch dann ändert sich der Ton. Es geht um den Vertrauensschwund in der Bevölkerung, um zusätzliche Sprechzeiten, um freien Meinungsstreit. Die Wende hat Kamenz erreicht. Für Tillich bedeutet das den ersten Streit in der Kreisverwaltung. Ein Bürger will in Elstra mit seinem westdeutschen Verwandten einen privaten Autohandel eröffnen. Das für das Handwerk zuständige Ratsmitglied sagt nein. Tillich sagt dagegen ja. Am Ende wird die Genehmigung erteilt.

Ein paar Tage später ist dann auch Tillich erstmals im Westen – in Berlin-Tempelhof. Den größten Teil von den 100 D-Mark Begrüßungsgeld gibt er für die Kinder aus. Eine Barbie-Puppe für die Achtjährige, ein Matchbox-Auto für den sechsjährigen Sohn. Die Geschenke werden am 24. Dezember unterm Weihnachtsbaum in Panschwitz-Kuckau liegen. Er selbst leistet sich mit seiner Frau ein Kofferradio.

Zeitungslektüre mit Folgen

Im Rat des Kreises Kamenz wird unterdessen die Hektik täglich größer. Am 7. Dezember wird Tillich per Beschluss verpflichtet, die Festtagsversorgung mit Fleisch und Backwaren zu sichern. Außerdem drohen Engpässe beim Diabetikerbier. Aber auch an diesem Tag fällt wieder die Entscheidung, ein Westgrundstück zu enteignen.

Im neuen Jahr beginnt endgültig die Auflösung. Am 29.Januar 1990 wird den Kamenzer Ratsmitgliedern ein Schreiben vom Rat des Bezirkes Dresden übermittelt. Seit dem 22.Januar ist es demnach erlaubt, „Beschlüsse, Weisungen und andere Materialien der örtlichen Staatsorgane“ zu vernichten.

Die nächsten Wochen geht es in Kamenz um den Aufbau eines Arbeitsamtes, um die Unterbringung von Ärzten im ehemaligen Gebäude der MfS-Kreisverwaltung und um die Ratsmitarbeiter selbst. Ein neues Landratsamt soll gebildet werden – nach Weststrukturen. Tillich gehört zu denen, die anders planen. Er will eine Firma gründen und fährt nach Nieder-Olm in Rheinland-Pfalz. Dort liest er am 19. März in der Zeitung, das er jetzt Mitglied der DDR-Volkskammer ist. Gerechnet hat er damit nicht. „Ich stand schließlich nur als dritter Sorbe auf der CDU-Liste.“ Im Anwesenheitsprotokoll taucht er in Kamenz nur noch einmal auf: „VK-Tagung“. Dann beginnt nach 297 Tagen als Ratsmitglied Tillichs zweites Leben.