Riesa. Macht das Stahlwerk krank? Die These bewegt Riesa – nicht zum ersten Mal. Anlass der Debatte war eine Kleine Anfrage einer Grünen-Politikerin, die einen Zusammenhang zwischen Krebsfällen und Feralpi hergestellt hat. Dazu äußerte sich im Stadtrat die CDU-Stadträtin Dr. Christine Geiger. Die SZ sprach mit der Medizinerin.
Frau Dr. Geiger, Gegner des Stahlwerks werfen Feralpi vor, für besonders viele Krebsfälle in Riesa verantwortlich zu sein. Das Unternehmen hält mit Statistiken dagegen, nach denen es in Riesa gar keine Auffälligkeiten beim Krebs gibt. Wem darf man glauben?
Man muss sich auf die standardisierten Zahlen des Krebsregisters stützen, den sogenannten SIR-Wert. Der berücksichtigt das Alter der Einwohnerschaft. Einen aussagekräftigeren Wert gibt es nicht, weil die unterschiedlichen Krebshäufigkeiten sehr stark vom Alter der Einwohner abhängen.
Diesen standardisierten Wert zieht Feralpi heran. Demnach unterscheidet sich die Häufigkeit der Krebsfälle in Riesa nicht von der in Radebeul ...
Genauso ist es. Und man kann Vertrauen in das Krebsregister haben: Vor allem in den neuen Bundesländern wird das sehr korrekt geführt. Die Ärzte hier sind gut geschult, wirklich jeden Fall zu melden.
Schaut man genau in die Statistik, fällt auf, dass es in Riesa verhältnismäßig viele Fälle von Lungenkrebs gibt. So wurden 2013 gleich 29 neue Fälle registriert. Woran kann das liegen?
Das größte Lungenkrebsrisiko ist das Rauchen. Ich erinnere mich an eine Patientin mit Lungenkrebs, die Nichtraucherin war. Aber die hat als Kellnerin in einer Gaststätte gearbeitet, als dort noch geraucht werden durfte. Wer täglich eine Schachtel Zigaretten konsumiert, stirbt etwa sechs Jahre früher. Arbeitslose rauchen häufiger, da waren die Riesaer nach der Wende sicher stärker betroffen als unsere Nachbarstädte. Neben Dutzenden anderer krebserregender Stoffe erhält Tabakrauch übrigens auch Dioxin.
Aber was ist mit Feinstaub? Der soll doch auch Lungenkrebs verursachen.
In der Tat: Feinstaub begünstigt eine chronische Entzündung der Atemwege, die das Krebsrisiko verstärken kann. Feinstaub kommt aber nicht nur aus Industrieschornsteinen: Die Industrie hat seit 1990 ihren Feinstaubausstoß um 90 Prozent reduziert. Beim Straßenverkehr gab es längst nicht so einen starken Rückgang. Und dann sind da heute noch die Lagerfeuer in den Kleingärten und die Holzheizungen. Aber im Vergleich zur Feinstaubbelastung etwa in Stuttgart ist Riesa geradezu eine Kurstadt.
Wie verhält es sich mit Mund- und Rachenkrebs? Auch davon wurden innerhalb eines einzigen Jahres in Riesa 16 Fälle diagnostiziert.
Dort spielt ebenfalls das Rauchen eine große Rolle. Dazu kommt der Schnaps. Auch Papillomviren sollen die Tumorentstehung begünstigen. Hollywood-Star Michael Douglas etwa hatte ausgesagt, sein Krebs sei dadurch ausgelöst worden.
Noch häufiger aber werden in Riesa Fälle von Dickdarm- und Mastdarm-Krebs festgestellt. Hat das auch was mit Viren zu tun?
Da spielt ganz eindeutig das Alter der Betroffenen die wichtigste Rolle. In der Regel sind die Patienten älter als 65 Jahre – und von der Altersgruppe gibt es in Riesa anteilig deutlich mehr als in Radebeul. Weitere Auslöser sind eine genetische Vorbelastung, eine ungesunde Ernährung mit zu wenig Ballaststoffen und zu viel rotem Fleisch und Übergewicht.
Gegen Hautkrebs hilft gesundes Essen aber nicht – oder doch?
Jeder Sonnenbrand kann dazu beitragen, das Hautkrebsrisiko zu steigern. Das liegt an der UV-Strahlung der Sonne. Dagegen helfen schon ganz einfache Dinge: Man sollte konsequent auf den Lichtschutzfaktor der Sonnencreme achten und die Mittagssonne im Sommer meiden.
Das klingt so, als könnte man durch sein eigenes Verhalten das Krebsrisiko deutlich senken ...
Ja. Der individuelle Lebensstil ist ganz eindeutig der Schwerpunkt für das Krebsrisiko. Viele andere Einflüsse sind im Alltag aber kaum vermeidbar. Und es gilt immer zu bedenken, dass manches erst noch erforscht werden muss. Drei simple Regeln helfen aber jedem schon viel weiter: Man sollte nur mäßig Alkohol trinken, nicht Rauchen und sich ausgewogen ernähren.
Ernähren sich die Menschen heute ungesünder als früher? Oder woran liegt es, dass es gefühlt immer häufiger Krebsfälle gibt?
Im Wesentlichen ist das der Preis für unsere hohe Lebenserwartung. Bei den Zahlen festgestellter Krebsfälle spielen oft auch neue Untersuchungsmethoden eine Rolle. Wenn viele Frauen am Brustkrebs-Screening teilnehmen oder mehr Patienten eine Darmspiegelung machen, wirkt sich das natürlich auf die Statistik aus. Dadurch gibt es aber nicht mehr Krebskranke. Tatsächlich ist es so, dass Betroffene dadurch früher und besser behandelt werden können – und die Sterblichkeit durch Krebs sinkt.
Eine Merkwürdigkeit bleibt aber: Zwischen dem auslösenden Ereignis einer Krebserkrankung und deren Ausbruch können Jahrzehnte liegen. Also müssten sich doch in der aktuellen Krebsstatistik der Jahre 2004-2013 für Riesa auch Leute finden, die zu DDR-Zeiten etwa im Rohrkombinat oder im Reifenwerk gearbeitet haben?
Ja. Allerdings geben die Zahlen für Riesa keine Auffälligkeit her. Das liegt wohl daran, dass die Schadstoffbelastung der Umwelt laut Deutschem Krebsforschungszentrum nur für zwei Prozent der Krebsfälle verantwortlich ist. Etwas mehr ist es natürlich bei denen, die den Stoffen am Arbeitsplatz direkt ausgesetzt waren – nicht nur in Stahlwerken, sondern etwa auch im Wismut-Bergbau oder bei Malern und Lackierern, die früher keine Atemmasken trugen.
Was bleibt dann noch von den Vorwürfen gegen Feralpi?
Nichts. Weit gefährlicher ist es, Billigschuhe zu tragen, die in Bangladesch oder Indien mit Chrom gegerbt wurden. Der Bluthochdruck nach dem Lesen eines alarmistischen Zeitungsartikels ist wahrscheinlich bedrohlicher als die Luft in Riesa.
Gespräch: Christoph Scharf