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Die Mutter, die ihm fremd blieb

Rüdiger Sachs wurde im DDR-Frauengefängnis Hoheneck in Stollberg geboren. Seine Mutter hat er erst Jahre später kennengelernt. Von Dauer war ihre Beziehung nicht.

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© Thomas Kretzschel

Von Christina Wittich

Nach 63 Jahren steht er wieder an dem Ort, an dem er das erste Mal schrie. Rüdiger Sachs atmet ein, aus, und sagt dann: „Tja, gut möglich, hier könnte es gewesen sein.“

Der Geburtsort von Rüdiger Sachs: das Frauengefängnis Schloss Hoheneck in Stollberg.
Der Geburtsort von Rüdiger Sachs: das Frauengefängnis Schloss Hoheneck in Stollberg. © Thomas Kretzschel
Eine Frau, die ein Kind hatte und doch keines: Das Foto zeigt Rüdiger Sachs als Sechsjährigen mit seiner leiblichen Mutter Gerda Schwanz.
Eine Frau, die ein Kind hatte und doch keines: Das Foto zeigt Rüdiger Sachs als Sechsjährigen mit seiner leiblichen Mutter Gerda Schwanz. © privat

Beige Farbe blättert Schicht für Schicht von den Wänden. Jahrzehnt um Jahrzehnt, scheint es, will sich abschälen vom Schlossgemäuer. Rattenschiss und Mäusedreck in der Zimmerecke. Rostige Heizungen unter den Fenstern. Gitter teilen den Himmel in blaue Rechtecke. Kein Geräusch. Nur der heruntergefallene Putz knirscht unter den Schuhen. Kälte kriecht aus dem Linoleum durch dünne Gummisohlen.

Rüdiger Sachs schnäuzt sich. „Früher sind sie hier mit Holzpantinen rumgelaufen“, sagt er. „Mussten sie, damit man hört, wo sie sind.“ Das habe seine Mutter erzählt, die hier in den Wehen lag. In einem der Zimmer des Krankentraktes im DDR-Frauengefängnis Hoheneck. Vielleicht sogar gerade dort, wo Rüdiger Sachs nun steht, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Als würde er jemandem gedenken.

Sachs reist durch seine Lebensgeschichte: von Artern an der Unstrut über Stollberg-Hoheneck in Sachsen nach Ifta an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze und zurück nach Hause. Rund 600 Kilometer für 63 Jahre. Rüdiger Sachs spürt seiner Mutter nach.

Das ist Gerda Katharine Elisabeth Schwanz, geborene Sachs. Sie ist 29 Jahre alt, als sie wegen Spionage zu 25 Jahren Haft verurteilt wird. In Hoheneck bringt sie ihr einziges Kind zur Welt, am 4. Juni 1950. Vor dem Gitterhimmel sind es 24 Grad. „Unter dem Einfluss des osteuropäischen Hochdruckgebiets hält das sommerlich warme Wetter an“, schreibt das Neue Deutschland an jenem Tag. Heinz Rüdiger Sachs, genannt Rüdiger, ist ein Sonntagskind. Mit knapp zwei Kilogramm Geburtsgewicht ist er zart, aber gesund. Seine Mutter stillt ihn, wenn auch nicht lange.

Noch vor Antritt seiner Reise am frühen Morgen saß Rüdiger Sachs mit seiner Frau Rosemarie daheim im Wohnzimmer in einem Reihenhaus in ruhiger Seitenstraße. Es gab mit Salami und Schinken belegte Brötchen. Sohn und Tochter lächeln von Fotos. Die Tochter lebt mit ihren zwei Kindern weit weg bei Kassel. Die Enkel sind präsent über der Tür, im Durchgang zur Küche, auf jedem Schränkchen. „Er ist ein absoluter Familienmensch“, sagt Rosemarie Sachs, eine zierliche Brünette, der man die 65 nicht ansieht. Sie redet gern über ihren Mann.

Rosemaries Mann Rüdiger jedenfalls ist eines von wahrscheinlich 30 Kindern, die zwischen 1950 und 1952 im Frauengefängnis Hoheneck zur Welt kamen. Genaue Zahlen gibt es nicht. Niemand hat Buch geführt über die Säuglinge und Kleinkinder, die nun einmal mit einzogen in den Knast. Noch im Bauch oder schon auf dem Arm.

Noch einmal 30 sollen es gewesen sein, die die Frauen schon mitbrachten aus den Lagern Bautzen und Sachsenhausen, in denen sie zuvor untergebracht waren. Anfang 1950 wies ein russisches Militärtribunal sie ein in das einstige Schloss hoch über Stollberg. Meist abgeurteilt nach Paragraf 58 des Strafgesetzbuches der UdSSR als Konterrevolutionäre, Spione, Saboteure. Unter ihnen auch Mörderinnen oder ehemalige KZ-Aufseherinnen. 1.119 Frauen belegten damals das Gefängnis, das für maximal 600 Insassen ausgelegt war. Festgenommen wird Rüdiger Sachs’ Mutter im Oktober 1949 in Ifta, einem Dorf zwischen Eisenach und Eschwege. Vier Kilometer Feld und Wiese trennen in jener Zeit Ost und West. Gerda Schwanz stammt aus einfachen Verhältnissen: Zwei ältere Brüder, sie wohnt noch im Haus der Eltern, Arbeiter und Landwirte im Nebenerwerb. Ihr Mann gerade erst heimgekehrt aus russischer Gefangenschaft. „Ehefrau“ steht als Beruf im amtlichen Fragebogen und „Zigarrenarbeiterin“.

Gerda Schwanz hat nie darüber geredet, warum sie Fluchthelferin war. Sie stammt aus Ifta, wie ihre Eltern, ihre Groß- und Urgroßeltern. Vielleicht taten ihr die Menschen nur leid, die Gestrandeten. Vielleicht wollte sie sich ein Zubrot verdienen. „Die meisten, die als Evakuierte in unseren Ort kamen, wollten nicht in der Ostzone bleiben“, sagt Rüdiger Sachs. „Meine Mutter hat die dann auf einem Kuhwagen über die Grenze gefahren. Und von drüben hat sie Ersatzteile fürs Automobilwerk mitgebracht.“ Das kostete sie ihr Kind.

Rüdiger Sachs, der Fahrlehrer ist, macht das Beste aus seiner Vergangenheit. „Manchmal sag ich zu meinen Schülern, ich war auch schon im Knast“, plaudert er. Ein trockenes kurzes Lachen. Sachs braucht im Grunde genommen nichts auf der Autofahrt nach Hoheneck. Er trinkt nicht Wasser, nicht Limo, raucht nicht. Nicht einmal einen Schokoriegel will er naschen. „Da kriegen die solche Augen!“ Auf der Rückfahrt nimmt er ein halbes Brot mit im Jutebeutel. Für eine Bekannte in Ifta. „Die haben da keine Bäckerei mehr.“

Vor drei Jahren hatte er einen Zuckerschock. Seitdem habe er abgenommen, sagt er. 20 Kilo. „Das war, kurz bevor ich zum ersten Mal dorthin gefahren bin.“ Eine Einladung - die Kinder von Hoheneck wollten sich treffen. „Ich wusste nicht, was mich erwartet“, sagt Rüdiger Sachs. „Und dann kam auch noch eine Frau, die mit meiner Mutter gesessen hat, die sie kannte.“ Da brach er zusammen.

In dem Buch „Kindheit hinter Stacheldraht“ heißt es: „Manche Kinder wurden ihrer Mutter mit Gewalt aus den Armen gerissen; das jüngste war gerade acht Wochen alt, das älteste drei Jahre. Es war ein irrsinniger Lärm. Die Kinder schrien unaufhörlich und heulten nach ihrer Mutter, und die Hunde der Wachposten, mit denen man uns in Schach hielt, bellten die ganze Zeit wie wild‘, erinnert eine der Mütter.“ Sobald vier bis fünf zusammenkamen, holte man sie ab. Als „Kinder der Landesregierung“ wurden sie untergebracht in Heimen, viele freigegeben zur Adoption.

Rüdiger Sachs ist noch nicht einmal ein halbes Jahr alt, als er seine Mutter verliert. Er, das Sonntagskind, hat dennoch Glück im Unglück. Ein Onkel, Bruder der Mutter, Busfahrer und Mitbegründer der Kommunistischen Partei in Eisenach, holt ihn aus dem Säuglingsheim in Leipzig. Der leibliche Vater will das Kind nicht. Er hat sich scheiden lassen und lebt mit seiner neuen Frau nicht weit entfernt von Ifta, gelegentlich besucht Rüdiger ihn. Er ist glücklich bei Onkel und Tante, die er Mama und Papa nennt. Ein Einzelkind, verwöhnt und behütet. Später nennen ihn die Klassenkameraden manchmal „Sohn einer Knastologin“.

Die alte Heimat rückt näher. Rüdiger Sachs erinnert sich an den Zusammenhalt im Ort. Jeder kannte jeden. Kinder nannten Ältere generell Tante oder Onkel. Ifta war ein fast abgeriegeltes Dorf. Fachwerkhäuschen, sanfte Hügel, Felder und Wiesen, sattes Grün sicher eingezäunt so dicht an der Grenze. Die weißen Wachtürme am Waldrand stehen noch immer. Durch den äußeren Zwang entstand eine Nähe, die, so klingt es bei Rüdiger Sachs, aus dem kleinen Ort eine Familie machte. Er erinnert sich an die jährliche Kirmes, an den Umzug, die geschmückten Pferde, den Tanz. Er singt zotige Lieder an und erzählt vom Sportverein, vom Männerballett im Tutu, vom Bier im Gasthof „Roter Hirsch“.

Auch den gibt es noch. Dort findet heute ein Leichenschmaus statt. Keine Musik, kein Gelächter. Menschen in Schwarz. Rüdiger Sachs kannte den Verstorbenen, ein entfernter Verwandter. Er liefert das Brot im Jutebeutel ab bei Inge Reichhard. Herzlich begrüßt er die 77-Jährige. Dann geht er kondolieren, die alte Frau wartet am Nebentisch. Schwarze Bluse, schwarzer Rock, weiße Haare. Es gibt Buttercremetorte und Kaffee. Der „Rote Hirsch“ ist ihr Zuhause. Bis zu seinem Tod gehörte das Gasthaus Inge Reichards Mann, davor dessen Familie. Hier schlägt das Herz des Dorfes.

„Seine Mutter kenne ich nur vom Hörensagen“, sagt die Gasthof-Wirtin. „Bei der ersten Kirmes nach dem Krieg stand sie mit am Anger, das ist mir noch in Erinnerung. Ein paar Jahre später haben sie sie geholt.“ Wegen Botengängen, so habe sie es gehört. Erzählt habe man sich ja sonst nichts darüber. „Sie hat einige Male gesagt bekommen, dass sie sie auf dem Kieker haben, aber sie hat nicht aufgehört.“ Glück habe der Rüdiger gehabt, dass Onkel und Tante sich gekümmert hätten. Dann kam die Mutter wieder nach Hause.

Nach einer Generalamnestie 1956 kehrt Gerda Schwanz zurück in die Braugasse 1 in ein unscheinbares zweistöckiges Gebäude, graubraun verputzt mit Spitzdach. Zehn Gehminuten entfernt vom „Roten Hirsch“. Die fremde Mutter, sie steht eines Tages einfach vor der Tür. Diese hagere Frau mit Brille und Dutt „Mutti“ zu nennen, das kann der Sohn nicht.

Sie gibt sich Mühe, bleibt ein paar Wochen, sucht Arbeit und findet als ehemals politischer Häftling keine. Irgendwann packt sie ihre Sachen, nimmt ihr Kind und steigt in einen Zug. „Sie hat wahrscheinlich wirklich gedacht, wenn wir erst einmal zusammen sind, dann wird das schon wieder“, sagt Rüdiger Sachs.

Sie kommen bis Westberlin, bleiben im Auffanglager, fliegen nach Ulm, landen auch dort im Lager. Das alles dauert vielleicht ein halbes Jahr. Dann besucht sie der Onkel, der Papa, „und von dem Tag an, an dem der da war, wurde das Heimweh so groß, da wollte ich nicht mehr essen, nicht mehr trinken. Da habe ich zu meiner Mutter gesagt: ,Ich mache alles, ich schreib dir auch Briefe, aber lass mich nach Hause‘.“

Sachs und seine Mutter schreiben sich lange Briefe. Sie schickt Pakete. Als er mit seiner Frau nach Artern zieht, darf sie die Familie besuchen. Sie lernt ihre Enkeltochter kennen und will das Baby kaum aus dem Arm geben. 1979 stirbt Gerda Sachs mit gerade einmal 59 Jahren. Der Staat lässt den Sohn nicht ans Sterbebett. „Im Prinzip hatte sie ein Kind und doch keines“, sagt Rüdiger Sachs. Es ist früher Abend. Rosemarie ruft an. Wann er zu Hause sei wegen des Abendessens. Der Enkel möchte außerdem demnächst Urlaub machen beim Opa.

Die DDR ist Geschichte. Sie hat Rüdiger Sachs geprägt. „Bleibende Schäden hat sie zum Glück nicht hinterlassen“, sagt er und steigt ins Auto.

www.kinder-hinter-stacheldraht.de