Von Mandy Schaks
Reichstädt. Die Wolken hängen tief und regenschwer über Reichstädt. Nur der Kirchturm steckt seine Nase aus der grauen Suppe, fast schon ein bisschen trotzig. „Mal sehen, wie das Wetter am Mittwoch wird“, sagt Anja Graul und schiebt ihre Hände in den leichten Sommermantel. Dann will die Wanderführerin Interessierte mit auf eine Kirchentour nehmen.
Geführte Touren
Die rund zwölf Kilometer lange Route führt von der Windmühle zu einem Busch in Oberreichstädt. Dort hat bis 1945 die Grabkapelle der Familie Schönberg gestanden. Zuvor – das wissen wohl die wenigsten – war hier sogar einmal eine Pilgerkirche, die den denkwürdigen Namen „Zu den 14 Nothelfern“ trug und 1320 erstmals urkundlich erwähnt wurde, also ungefähr so alt ist wie das Dorf selbst. Laien finden die historische Stätte kaum. Doch mit der Expertin – Anja Graul ist zertifizierte Kirchenführerin – ist das kein Problem. Sie kann den Besuchern sogar noch auf dem Boden den Grundriss der Pilgerkirche zeigen. Von dort geht es weiter zu den Lehngutwiesen ins Tal der Wilden Weißeritz zu einem alten Taufbecken und nach Reichstädt zur Dorfkirche. Die Kirchenführung ist ihre Lieblingstour, verrät sie. „Man fragt sich dann schon: Wieso hat da oben mal eine Pilgerkirche gestanden?“, sagt die 44-Jährige und legt ihren Kopf etwas nachdenklich in den Nacken. „Man kann trefflich darüber spekulieren, wie das Dorf entstanden ist.“ Anja Graul interessieren vor allem die Dinge, die nicht so offenkundig sind. Das macht Mühe, richtig Arbeit. Anja Graul braucht zur Vorbereitung einer Gästetour bis zu einem Jahr. Aber sie hat dabei viel Spaß, erfreut sich an Details, die sie herausfindet, zuordnet und Interessierten weitergeben kann. Und sie hat die Möglichkeit, ihr umfangreiches Wissen anzuwenden.
„Man muss vieles wissen“
Frau Graul studierte Literaturwissenschaften, ist damit auch von Hause aus sehr belesen. „Man muss sich mit Landesgeschichte befassen, der deutschen und der europäischen Geschichte, Kulturgeschichte … – man muss eigentlich vieles wissen“, umreißt sie ihre Arbeit. Seit 2009 ist die gebürtige Dresdnerin, die es aus familiären Gründen nach Reichstädt verschlug, als Gästeführerin unterwegs – meist im Elbtal. „Hier ist eine touristisch unterbelichtete Gegend“, erklärt die Reichstädterin mit Bedauern. Dippoldiswalde brauche ein Tourismuskonzept. „Denn wir haben hier so viele schöne Sachen.“ Spontan fallen ihr im Ortsteil Reichstädt die beiden Kirchen ein, ebenso Schloss und Windmühle, in Schmiedeberg steht sogar eine George-Bähr-Kirche. Und Dipps selbst hat zwei Kirchen, die mit dem Bergbau verbunden sind, und davon mit der Nikolaikirche noch eine der wenigen romanischen Sakralbauten, die es in Sachsen gibt. Anja Graul kommt ins Schwärmen. Das sind Perlen. Deshalb macht sie auch bei der Herbstwanderwoche des Tourismusverbandes Erzgebirge mit – unentgeltlich. Bis Sonntag zeigen Einheimische Interessierten auf insgesamt 43 geführten Rundwanderungen ihre Lieblingsplätze. „Wenn niemand was macht, kann nichts entstehen“, sagt Anja Graul und hofft, am Mittwoch mögen sich viele Interessierte 9.30 Uhr am Mühlenplatz in Reichstädt einfinden. Wenn das Wetter miesepetrig ist, hat sie garantiert noch einen Plan B.
Anmeldung zur Kirchentour: Telefon 03504 6292778