Merken

Die überwachte Gesellschaft

Wir stehen von der Wiege bis zur Bahre unter Beobachtung. Das führt zur effizientesten Form der Zensur: der Selbstzensur.

Teilen
Folgen
© Nirut Sangkeaw/Fotolia

Von Ilija Trojanow

Als ich klein war, wurde unsere kleine Wohnung in Sofia verwanzt. Im Rahmen einer großangelegten technischen Aktion. Der Leiter der 3. Unterabteilung der II. Abteilung der VI. Hauptabteilung der bulgarischen Staatssicherheit (DeSe), ein Offizier namens Panteleew, hatte vorgeschlagen, eine Reihe von Mikrofonen in unserer Wohnung zu installieren, um die operative Ermittlung gegen das verdächtige Objekt G.K.G. (mein Onkel) zu unterstützen. Die Umsetzung erfolgte an einem sonnigen Frühlingstag.

Zu diesem Zweck mussten alle Bewohner aus dem Haus entfernt werden. Der Chef meines Onkels wurde angewiesen, diesen auf Dienstreise zu schicken. Ein Agent hatte zu überprüfen, ob er in den Zug stieg, ein anderer, dass er am Zielort dem Zug entstieg. Der Hauswart wurde eingeweiht und damit beauftragt, eine Liste der Anwohner zu erstellen: insgesamt 17 Namen. Meine Tante und Großmutter wurden ins Innenministerium vorgeladen, die Nachbarn entsprechend ihrer systemkonformen Haltung zu ausführlichen Gesprächen ins örtliche Volksfrontbüro gerufen. Die Rentnerin Stambolowa wurde in einen Rentnerklub eingeladen, wo sie ein Mitarbeiter der Staatssicherheit zu beobachten hatte, sollte sie sich wider Erwarten verfrüht auf den Heimweg machen.

So wurde ein jeder weggelockt, damit die Einsatzgruppe, zuständig für die Montage der Mikrofone, in die Wohnung eindringen konnte. Ihnen zur Seite zwei weitere Agenten, betraut mit der Aufgabe, den Kontakt mit der Einsatzzentrale aufrechtzuerhalten. Vor der Haustür zusätzlich eine Schutz- und Wachgruppe aus drei Mitarbeitern, in Funkkontakt mit allen anderen Einheiten, um die notwendigen Maßnahmen absprechen zu können, sollten unerwartete Gäste auftauchen. Gleichzeitig wurde die Dienststelle der Staatssicherheit in der Provinzstadt Blagoewgrad beauftragt, die Eltern meines Onkels unter Beobachtung zu stellen, sollten sie zu einem überraschenden Besuch nach Sofia aufbrechen. Schließlich wurde in Auftrag gegeben, das „Aggregat zur Lärmverursachung“ laufen zu lassen, bis zum erfolgreichen Abschluss der Installierung. An dieser Operation waren insgesamt 24 Mitarbeiter der
DeSe beteiligt.

Heute wäre der nötige Aufwand im Vergleich läppisch gering, wenn die betreffenden Objekte der Beobachtung Handys sowie Computer samt Internetanschluss nutzen. Einige Tastaturbefehle, einige Klicks – die sechsköpfige Großfamilie wäre kommunikativ durchleuchtet. Und das geschieht in diesem Augenblick in vielen Wohnungen auf der Welt. Auf den Türen der Wiener U-Bahn sind zwei Aufkleber zu sehen, ein grüner, der eine Überwachungskamera abbildet, und ein blauer, der einen Kinderwagen zeigt. Die Aussage ist in meiner Lesart klar und einfach: Wir weisen Sie darauf hin, dass Sie von der Wiege bis zur Bahre unter Beobachtung stehen. So muss es jeder verstehen, der die medialen Enthüllungen und Diskussionen der letzten Monate verfolgt hat. Aber der Schwerpunkt des öffentlichen Diskurses hat sich in dieser Zeit auf erstaunliche Weise verschoben.

Es ist allgemein bekannt, dass Menschen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks noch Jahre nach 1989 ins Flüstern fielen, wenn sie etwas Kritisches von sich gaben. Wie wird sich das Verhalten ändern, wenn wir alle verinnerlicht haben, dass auch das leiseste Flüstern erfasst und der Inhalt des Geflüsterten entlarvt werden kann? Wie gehen wir mit der volkstümlichen Weisheit „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten“ um, wenn uns bewusst geworden ist, dass aufgrund von Surfverhalten, Aufenthaltsort, Bibliotheksausleihe und vielem anderen mehr zumindest die thematische Hinwendung der (eigenen) Gedanken, wenn nicht gar ihre Ausprägung, sichtbar gemacht werden können? Hören wir dann auf zu denken? Überwachung führt unweigerlich zu Selbstzensur, der elegantesten und effizientesten Form von Zensur, die es je gegeben hat. Indem der Einzelne sich selbst kontrolliert, vermeidet er, dass Fremde in seinen Gedanken herumkramen, und fühlt sich frei.

Es gab vergangenes Jahr eine Umfrage des amerikanischen Schriftstellerklubs PEN unter seinen Mitgliedern. Darin erklärten 16 Prozent der Befragten, dass sie bestimmte Themen inzwischen bewusst vermeiden. Nicht nur im persönlichen Gespräch und in E-Mails, sondern auch in ihren Texten. Mit anderen Worten: Fast ein Sechstel aller Autoren in den USA übt schon eine Art der Selbstzensur aus, ein weiteres Sechstel hat dies schon einmal ernsthaft in Erwägung gezogen. Es ist anzunehmen, dass die Zahlen in Deutschland ähnlich aussehen würden.

Bedenkt man, dass wir erst im Laufe des letzten Jahres schlüssige und unwiderlegbare Beweise für die globale Überwachungsmaschinerie erhalten haben, ist es bemerkenswert, wie effektvoll sich diese neue Realität in den Köpfen der Intellektuellen bereits eingenistet hat. Allein die Tatsache, dass jene Autorinnen und Autoren, die in den letzten zwölf Monaten publizistisch oder in politischen Aktionen gegen die grassierende allgegenwärtige Überwachung protestiert haben, gelegentlich zu hören bekommen, wie „mutig“ sie seien, belegt, wie überzeugt viele schon sind, dass kritische Meinungsäußerung unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen kann. In einer freien Gesellschaft müsste die Rettung eines in Not geratenen Schwimmers aus den Fluten der Ostsee als mutig gelten, nicht aber ein kritischer Text, ein ehrliches Interview, eine aufrüttelnde Petition.

In einer anderen, Anfang April 2014 veröffentlichen Umfrage in den USA gestanden sage und schreibe 47 Prozent der US-amerikanischen Erwachsenen, dass sie ihr Verhalten im Internet verändert haben, seitdem sie von den Programmen der National Security Agency (NSA) wissen. Sie seien seitdem vorsichtiger beim Surfen und Kommunizieren. Fast ein Viertel der Befragten misstraut neuerdings dem Instrument der E-Mail, weswegen diese Menschen E-Mail seltener und mit größerem Bedacht benutzen. Größere Nutzungsveränderungen ergaben sich auch beim Einkaufsverhalten im Netz sowie beim Online-Banking.

In letzter Zeit habe ich zweimal erlebt, dass mein Gesprächspartner den Wunsch äußerte, wir mögen unsere Unterhaltung doch im Park bei einem Spaziergang fortsetzen. Subversives befand sich beide Male nicht auf der Tagesordnung. Vielmehr war dieses Verhalten Ausdruck des Bedürfnisses, sich im Widerstand gegen eine allgegenwärtige Übermacht einer gewissen Anonymität zu vergewissern. In dem Maße, in dem Anonymität verschwindet, wird auch der Wille zur Enthüllung und Entlarvung verloren gehen. Wir müssen nicht warten, bis wir im Morgengrauen verhaftet werden, um Opfer dieses Systems zu werden.

Dies begreifen viele alte Dissidenten oder Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR, aus Rumänen und Bulgarien nicht, die gelegentlich blauäugig abwiegeln: „Solange ich nicht befürchten muss, im Morgengrauen in Handschellen abgeführt zu werden …“ Wir werden erst dann zu einem größeren, existenziell notwendigen Widerstand gegen die Übergriffe auf unsere Privatsphäre in der Lage sein, wenn wir begriffen haben, dass Massenüberwachung an sich schon ein repressives Instrument ist.

Nach der Installierung der Mikrofone hörte die bulgarische Staatssicherheit alle Gespräche mit, die in unserer Großfamilie geführt wurden. Als ich vor einigen Jahren die Abschriften jener Kommunikation las, die nach Einschätzung der Behörde relevant war, fiel mir auf, wie verdächtig selbst die banalste Bemerkung wirkt, wenn ein Generalverdacht wie dichter, undurchdringlicher Nebel auf den Objekten liegt. Sich unter Beobachtung die Unschuld zu bewahren, ist genauso schwer wie vor der Kamera die Natürlichkeit.

Überwachung und Verdacht sind siamesische Zwillinge. So war eine Unterhaltung über das harmloseste aller Themen, Socken nämlich, vom zuständigen Beamten an einigen Stellen unterstrichen und mit operativen Anmerkungen versehen worden. Klarerweise haben Verdächtige, die sich über Socken unterhalten, entweder etwas zu verbergen oder benutzen eine Geheimsprache. Stets passt sich die Realität der Paranoia an.

Wie kann es sein, dass wir im Kampf gegen die Diktatur nur so wenige waren, haben mich ehemalige politische Häftlinge in Bulgarien immer wieder gefragt. Hatten alle anderen keinen Sinn für Freiheit? Man braucht keine große Fantasie, um zu erkennen, dass viele von jenen, die heute die Gefahr für die Freiheit des Einzelnen kleinreden, vor einem halben Jahrhundert leicht die Argumente gefunden hätten, den damaligen Ausbau totalitärer Strukturen zu rechtfertigen. Jenseits der selbstmächtigen Behauptung sind Beweise nicht nötig.

Transparenz ist der größte Feind jener, die Freiheit verteidigen, weil es vorgeblich nicht anders geht. Doch es gibt einen entscheidenden Denkfehler in diesem Legitimationskonstrukt. Wer ein so enormes Vertrauen in die allumfassende Überwachung hat, der müsste diesen Weg konsequent zu Ende gehen, der müsste die Überwachung der Überwachenden veranlassen. Was liegt näher, als jenen zu misstrauen, die sich täglich in der Grauzone zwischen Subversion und Allmachtsfantasie aufhalten, jenen, die Paranoia als professionelle Kompetenz betrachten. Zumal ihr Verhalten – Geheimniskrämerei, Ausflüchte, Hinhaltetaktik – den Verdacht nährt, sie hätten etwas zu verbergen, was wiederum gemäß der von ihnen selbst postulierten Logik auf ihre Schuld hinweist.

Das ist weder ironisch noch lustig gemeint. Wer den Geheimdiensten zugesteht, die Gesellschaft mit allen Mitteln zu überwachen, selbst aber fast gar nicht überwacht zu werden, der traut dem Staat mehr als dem Individuum, der hat das 20. Jahrhundert verschlafen, der neigt zu jener epidemischen Nervenkrankheit namens Untertänigkeit.

Unser Autor: Ilija Trojanow, 1965 in Sofia geboren, ist Autor, Übersetzer und Publizist. Der Text ist die gekürzte Eröffnungsrede zum Theaterfestival „Parallel Lives“ mit europäischen Inszenierungen zum Thema Geheimdienste, das am 19. Juni am Staatsschauspiel Dresden beginnt.