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Die vergessene Generation

Wenn Italien am Sonntag ein neues Parlament wählt, setzen viele junge Leute auf Protest und Populismus – und die Hoffnung, dass ihr Leben endlich besser wird. Ein Stimmungsbericht.

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© picture alliance/Photoshot

Von Almut Siefert

Donatello Prunella ist ein pragmatischer Kerl. Der 23-Jährige sitzt am Tisch im Garten seiner Familie in Conversano, einer kleinen Stadt in der süditalienischen Region Apulien. Er studiert Ingenieurwissenschaften an der Universität in Bari, 35 Kilometer nördlich von hier. Das Studium sei für ihn kein Vergnügen, sagt Donatello. „Ich habe das Fach nicht gewählt, weil es mir gefällt, sondern weil es in diesem Sektor ziemlich sicher ist, dass ich Arbeit finden werde.“ Mehr als zwei Jahre hat er noch zu absolvieren, bevor er seinen Abschluss in der Tasche hat. Klar, so lange wohne er noch bei den Eltern, anders ginge es nicht.

Dabei ist die Presse voll von Meldungen des Aufschwungs: Die Arbeitslosenquote lag in Italien Ende vorigen Jahres bei 10,8 Prozent – so niedrig wie seit 2012 nicht mehr. Zwischen 2016 und 2017 ist auch die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen um 6,9 Prozent gesunken, auch wenn sie noch immer viel zu hoch ist: 32,2 Prozent der unter 25-Jährigen haben in Italien keine Arbeit. Nur in Griechenland (40,8) und Spanien (36,8) liegt diese Zahl im EU-Vergleich noch höher.

Dennoch, Donatello ist realistisch. Denn die Zahl, die in den meisten Berichten nicht erwähnt wird, ist die der Arbeitslosen zwischen 25 und 34. Einem Alter, in dem das Studium oder die Ausbildung abgeschlossen ist und viele anfangen, über die Familienplanung nachzudenken. Oder eben nicht. Rund 18 Prozent dieser Altersklasse sind in Italien arbeitslos. Gesunken ist diese Zahl in den letzten drei Jahren nicht. In vielen Teilen des Landes ist sie sogar gestiegen, vor allem im Süden. In Bari zwischen 2013 und 2016 um 5,1 Prozent auf heute 31,3 Prozent.

Hohe Arbeitslosigkeit, lahmende Wirtschaft, und kaum ein anderes Land der Welt ist so hoch verschuldet wie Italien. In dieser Situation sind am kommenden Sonntag rund 51 Millionen Menschen im Land aufgerufen, über ein neues Parlament abzustimmen. Ein ersehnter Heilsbringer à la Emmanuel Macron ist nicht in Sicht. Stattdessen preisen sich altbekannte Gesichter wie der mehrfache Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi als Retter der Nation an, die versprechen, die bleierne Lähmung der drittgrößten Volkswirtschaft im Euroraum zu beenden. Nur sein Mitte-Rechts-Bündnis hat eine realistische Chance, eine Regierungsmehrheit zu holen und die Sozialdemokraten abzulösen. „Bunga Bunga“ und Berlusconis Dauerkämpfe mit der Justiz scheinen vergessen zu sein. Kein Wunder, dass da eine Protestpartei wie die populistische Fünf-Sterne-Bewegung Zuspruch bekommt. Sie ist in Umfragen stärkste Einzelkraft, mit 28 Prozent aber weit von der Mehrheit entfernt.

Anders als die meisten seiner Altersgenossen weiß Donatello schon, wem er seine Stimme geben wird. „Ich wähle die Fünf-Sterne-Bewegung“, sagt er bestimmt. In den letzten 20 Jahren hätte sich sowohl unter rechten als auch unter linken Regierungen nichts geändert. „Die Politiker hatten immer nur ihren eigenen Vorteil im Kopf, aber nicht das Wohl des Landes.“ Der populistischen Bewegung von Ex-Komiker Beppe Grillo, die sich selbst weder rechts noch links verortet, traut er das Gegenteil zu. Damit ist er in guter Gesellschaft. Von den unter 35-jährigen Italienern, die schon wissen, wen sie wählen, will jeder Dritte die Fünf-Sterne-Bewegung unterstützen.

Filippo Boldrini zählt zu den „indicisi“, zu denjenigen, die noch nicht wissen, wo sie ihr Kreuz machen werden. Dabei liegt der Wahlzettel schon auf seinem Tisch. Als Italiener, der im Ausland lebt, wurden ihm die Unterlagen für die Briefwahl bereits in seine Wohnung am Prenzlauer Berg nach Berlin geschickt. Filippo ist 33 Jahre alt, stammt aus San Miniato in der Nähe von Florenz und lebt seit September 2012 in Deutschland. In Bonn hat er sein deutsch-italienisches Studium abgeschlossen und ist im Januar 2015 nach Berlin gezogen. Arbeit hat er dort sofort gefunden, als Kundenbetreuer in einer Vermittlungsfirma für Grafikdesign. Nach Italien will er so schnell nicht wieder zurück.

115 000 Italiener haben 2016 ihr Land verlassen, so viele wie seit der großen Auswanderungswelle in den 1960er-/70er-Jahren nicht mehr. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der im Ausland lebenden Italiener von rund drei Millionen auf fast fünf Millionen gestiegen. Und das sind nur diejenigen, die sich offiziell aus ihrer Gemeinde in Italien abgemeldet haben. Die tatsächliche Zahl dürfte also noch höher liegen. Experten gehen davon aus, dass etwa 285 000 Italiener allein im Jahr 2016 ins Ausland gezogen sind. Innerhalb Europas sind Großbritannien und Deutschland die beliebtesten Ziele. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes bestätigen diesen Trend: Ende 2016 lebten 611 450 Italiener in Deutschland. Davon waren 107 490 in den vergangenen vier Jahren gekommen und 107 370 im Alter zwischen 25 und 35.

Im Moment arbeitet Filippo nicht. Seit einem Monat. Aber er genießt die Zeit, erzählt er, denn nächste Woche geht es schon weiter. Er hatte Lust auf etwas anderes und daher seinen Job gewechselt. Er wird im Vertrieb eines Geldinstituts anfangen. „Ich wollte nach drei Jahren doch was mit Italien machen. Italien ist der Kernmarkt des Instituts“, sagt Filippo. Etwas riskant sei es schon gewesen, schließlich habe er den alten Vertrag gekündigt, bevor der neue unterschrieben war. „Aber ich hatte überhaupt keine Sorge: In Berlin ist es relativ einfach, Arbeit zu finden.“

Früher habe er immer PD gewählt, also die Sozialdemokraten. „Nach 20 Jahren Berlusconismo hatten wir große Hoffnung in Matteo Renzi. Von ihm bin ich aber sehr enttäuscht. Er hat sich mit den Leuten von Berlusconi zusammengetan und seine Versprechen nicht gehalten.“ Für Filippo ist es bereits eine ausgemachte Sache, dass es nach der Wahl eine Koalition zwischen PD und Silvio Berlusconis Forza Italia geben wird, auch wenn das von beiden Lagern in der Öffentlichkeit vehement bestritten wird. Für die Wirtschaft wäre eine Fortführung der Regierung des aktuellen Ministerpräsidenten Paolo Gentilonis in einem Bündnis mit der Forza Italia allerdings nicht das Schlechteste, glaubt Filippo: „Male minore, wie man in Italien sagt.“ Das kleinere Übel.

Zurück in seine Heimat will Filippo nicht. Zumindest jetzt noch nicht. „Ich weiß, dass man in Italien weniger verdient als in Deutschland. Aber wenn mir eine Stelle angeboten wird, die mir gefällt, in einer Stadt, die mir gefällt – warum nicht?“ Filippo lebt in Berlin mit seiner Freundin zusammen. Sie ist Deutsche. Im Herbst wollen die beiden heiraten.

Maria Teresa Teofilo hat mit Filippo zusammen studiert. Die 29-Jährige denkt auch über Heirat und Kinder nach, schiebt den Gedanken dann aber wieder weit von sich. Maria Teresa stammt aus Polignano a Mare bei Bari, heute lebt und arbeitet sie in Massa Marittima, einer kleinen Stadt bei Grosseto in der Toskana. „Ich habe mich bewusst entschieden, nach dem Studium in Deutschland wieder nach Italien zurückzugehen und hier zu bleiben“, sagt sie. Das Heimweh nach den Freunden, der Familie und der Sonne sei einfach zu groß gewesen. Seit Oktober letzten Jahres unterrichtet Maria Teresa an einer Berufsschule. Dort bringt sie 14- bis 16-jährigen Gastronomie-Auszubildenden Deutsch bei. In die Region kämen viele Touristen aus Deutschland – „da macht es Sinn, die Sprache zu lernen. Aber viele von meinen Schülern wollen auch später in Deutschland oder in der Schweiz auf Jobsuche gehen“, erzählt Maria Teresa.

Den Sommer will die junge Frau wie die meisten Italiener am Meer verbringen. Unbeschwert dürfte der Urlaub aber nicht werden. Maria Teresa arbeitet an einer staatlichen Schule, ihr Vertrag ist auf neun Monate befristet. „Am 13. Juni bin ich wieder arbeitslos. Aber ich hoffe, dass ich im September wieder einen Platz in dieser Schule bekomme.“ Eine Familie wünscht sie sich, einen Freund hat sie auch. „Ich bin fast 30 Jahre alt, natürlich denke ich darüber nach.“ Aber im Moment sei es einfach nicht möglich, ohne einen festen Vertrag, ohne eine sichere Zukunft. „Das ist ein großes Problem in diesem Land“, sagt Maria Teresa. 2017 kamen in Italien etwa 464 000 Kinder zur Welt. Zwei Prozent weniger als 2016. Die Geburtenrate liegt derzeit bei 1,39 Kindern pro Frau, ein Rekordtief. Damit ist der Stiefelstaat Schlusslicht in der EU. Eine Frau in Italien ist bei der ersten Geburt 31 Jahre alt, so alt wie nirgendwo sonst in Europa.

„Die Situation für junge Leute ist in Italien in den letzten Jahren noch schlechter geworden“, findet Maria Teresa. Viele ihrer Freunde seien bereits nach Deutschland oder Frankreich ausgewandert. Und haben dort eine Familie gegründet. Am Sonntag wird Maria Teresa die Fünf-Sterne-Bewegung wählen. Warum? „Das sind junge Leute, mit anderen, mit neuen Ideen.“

Neue Ideen hatten auch Chiara Finotti und Pierandrea Palumbo im Gepäck, als sie im September vorigen Jahres wieder nach Italien kamen. Eineinhalb Jahre vorher hatten sich die gelernten Sommeliers aus ihrer Heimatregion, dem Piemont, aufgemacht nach Kalifornien, in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. „Nach Jahren in der italienischen Gastronomie wollten wir etwas Neues erfahren“, sagt Pierandrea, der von allen nur Pier genannt wird und gerade 30 geworden ist.

Nun sitzt das junge Paar an dem großen Holztisch vor der Glasfensterfront. Die Aussicht aus der Küche ist atemberaubend: 1,5 Kilometer von Alba entfernt thront das moderne Domizil der beiden auf den Hügeln des Piemont – und gibt den Blick frei auf unendlich scheinende Weinberge. Pier ist in Moncalieri aufgewachsen, Chiara in Montanaro. Beide kennen die für ihren Wein berühmte Region in- und auswendig. Zwei Zimmer vermieten sie in ihrer „Villa Alba“, in der sie auch selber wohnen. Sie bieten ihren Gästen nicht nur eine Unterkunft, sondern bringen ihnen die italienische Lebensweise nahe. „Wir nehmen die Gäste, wenn sie wollen, mit zum Einkaufen, kochen mit ihnen oder sitzen abends einfach mit einem Glas guten Wein mit ihnen zusammen“, erklärt die 29-jährige Chiara das Konzept, während sie die Bialetti zusammenschraubt und Kaffee fürs Frühstück kocht. Dazu gibt es Brot mit Marmelade – beides selbst gemacht.

„Wir wollten das, was wir in Napa Valley erlebt haben, nach Italien, in unsere Heimat bringen.“ Vor wenigen Wochen kam zu dem Hotelbetrieb ein weiteres Projekt hinzu: Der nach eigener Aussage erste Weinclub Italiens. Die Mitglieder schließen eine Art Abonnement ab und erhalten in regelmäßigen Abständen eine Auswahl an unterschiedlichen Weinen – von Chiara und Pier ausgewählt. Ende des Jahres wollen die beiden außerdem eine Beratungsagentur für Weingüter gründen.

Aus Kalifornien haben die beiden nicht nur Ideen mitgebracht, sondern auch den für dort so typischen Macher-Geist. „Unser Einsatz war hoch: Wir haben eine sichere Zukunft in den USA zurückgelassen, um es in Italien zu versuchen“, sagt Pier. „Natürlich kann es schiefgehen“, wirft Chiara ein. „Aber man muss es doch wenigstens versuchen.“ Wem sie am 4. März ihre Stimme geben werden, verraten die beiden nicht. Wählen werden sie aber auf jeden Fall. „Auch wenn wir sehr enttäuscht sind, welche Rolle das alltägliche Leben für die Politiker heute spielt“, sagt Pier. „Die haben alle den Kontakt zur Realität verloren.“