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Die vergessenen Flüchtlinge

Vor zehn Jahren eskalierte der Streit um Südossetien. Die vertriebenen Georgier hoffen auf die Rückkehr in die Heimat. Doch da stehen russische Soldaten.

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Von Claudia Thaler

Liebevoll streifen die von Kratzern gezeichneten Hände über das kleine Bett. Isolda Schitischwili streicht die braune Decke glatt. Die Frau versucht ihr Heim wohnlich zu machen, ordentlich – auch wenn das Flüchtlingsdorf Freseti zwischen Georgien und Südossetien gar nicht ihr Zuhause ist. Seit zehn Jahren lebt sie hier. Seit zehn Jahren wartet sie. Und denkt an die nur 20 Kilometer entfernte Heimat. Die Menschen in Freseti lebten auch schon Tür an Tür, als ihr Dorf unter einem anderen Namen etwas weiter nördlich lag, in Südossetien. Sie alle waren wegen des Krieges zwischen Russland und Georgien im August 2008 geflohen. Die Gemeinde wurde von der georgischen Regierung hierher verpflanzt, wie die 58-Jährige es nennt. „Jeder weiß, dass wir nie zurückkehren können. Aber die Hoffnung ist das Einzige, was wir haben.“

Die Hoffnung stirbt zuletzt: Isolda Schitischwili schwelgt in Erinnerungen an die alte Heimat.
Die Hoffnung stirbt zuletzt: Isolda Schitischwili schwelgt in Erinnerungen an die alte Heimat. © dpa

Ethnische Georgier wurden damals aus Südossetien und Abchasien vertrieben. Beide Regionen spalteten sich von Tiflis ab. Häuser wurden niedergebrannt, Menschen getötet, Landstriche verwüstet. „Wegen der Angst sind wir alle krank“, sagt die Frau. Seit sie vor zehn Jahren ihr Haus verließ, leidet sie an Panikattacken. „Ich denke daran und bekomme keine Luft. Ich sterbe ganz langsam.“ Um sich abzulenken, verbringt sie ihre Zeit im Garten, gräbt um, jätet Unkraut, bis die Hände bluten.

Zehntausende Menschen leben als Flüchtlinge in Georgien, dem kleinen Staat am östlichen Rand Europas im Kaukasus. Ein Land, das gerade viele Touristen als hippes Reiseziel und Weinparadies für sich entdecken – auch aus Deutschland. Dabei ist das von Reiseführern als Touristenziel des Jahres beworbene Georgien tief gespalten – wirtschaftlich und politisch. Die Regierungen in den verarmten, abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien treiben seit Jahrzehnten all diejenigen Bewohner in die Flucht, die gegen die Unabhängigkeit sind.

Deshalb hat es sich Tiflis zur Aufgabe gemacht, irgendwann Mitglied der Europäischen Union und der Nato zu werden. Doch es gibt eine Hürde, die auch für die EU-Oberen in Brüssel bislang unüberwindbar erscheint: Solange der Konflikt in der Ex-Sowjetrepublik am Schwarzen Meer nicht gelöst ist, führt wohl selbst auf lange Sicht kein Weg zur Mitgliedschaft. Auch die Nato will sich den explosiven Streit nicht ins Haus holen.

Isolda und ihre geflüchteten Nachbarn wissen nichts von diesen politischen Absichten. Die Frau blickt aus dem Fenster. Sie sieht Reihen von Häusern, die sich kaum unterscheiden: weißes Dach, schmale Veranda, Gartentor. 300-mal hintereinander dieses Bild auf dem Hügel. Vom Staat bekommen die Flüchtlingsfamilien in Freseti eine kleine finanzielle Hilfe, die kaum zum Leben reicht. Im Monat müssen sie mit 45 Lari (rund 16 Euro) pro Person auskommen. Sieben von zehn Bewohnern haben keine Arbeit. „Die in Tiflis lachen uns doch ins Gesicht. Wer kann so schon überleben?“, fragt Isolda. Verwandte stecken ihr immer mal Geld zu.

Begonnen hatte das Drama in der Nacht zum 8. August 2008, als die Welt gebannt auf die Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking wartete. „Wir haben nie geglaubt, dass die Panzer zu unserem kleinen Dörfchen oben am Berg kommen“, sagt Isolda und wischt sich mit der Handfläche die Tränen aus dem Gesicht.

Hunderte Menschen starben bei dem Fünf-Tage-Krieg, der eine humanitäre Katastrophe auslöste. Nach zahlreichen Provokationen hatte sich der damalige Präsident Michail Saakaschwili zu einem Angriff auf die abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien hinreißen lassen. Russlands Regierungschef Wladimir Putin kündigte umgehend einen Vergeltungsschlag an. Mit der Begründung, Moskau müsse Südossetien schützen, setzte die Großmacht Panzer, Bomber und Bataillone in Bewegung – bis ins georgische Kernland. Erst die Vermittlung der EU stoppte das Blutvergießen.

Georgien verlor ein Fünftel seines Staatsgebietes. Abchasien und Südossetien erklärten sich für unabhängig, was nur von Russland und wenigen weiteren Staaten akzeptiert wird. Russische Soldaten kontrollieren seitdem die Regionen, Geldspritzen aus Moskau halten die isolierten Gebiete am Leben. Damals flohen innerhalb weniger Wochen schätzungsweise 130 000 Menschen. Die Regierung in Tiflis stampfte mit ausländischer Hilfe künstliche Orte wie Freseti aus dem Boden. Mitten im Nichts, nur die Berge des Großen Kaukasus bieten in der Ferne Orientierung.

Beide Seiten sind in ihren Positionen unverändert: Russische Politiker klagen darüber, dass Georgien Gespräche verweigert. „Wer hindert denn die georgische Führung, einen Dialog mit Südossetien und Abchasien zu suchen? Niemand!“, sagte der Ex-General und russische Außenpolitiker Wladimir Schamanow. Tiflis hält dagegen. „Wenn es zu Gesprächen kommt, wird das torpediert“, sagt die georgische Staatsministerin für Versöhnung und Gleichstellung, Ketewan Zichelaschwili. Besonders leiden die Menschen in Freseti darunter, dass es kaum Arbeit gibt. Warten wird zum Tagesinhalt. Obwohl das Leben in der alten Heimat wirtschaftlich oft schlechter sei, wollten mehr als vier Fünftel der Menschen dorthin zurück, sagt Zichelaschwili. Auch wenn die Chancen gering sind.

Heute reihen sich Dutzende Flüchtlingsdörfer zwischen Tiflis und der Stadt Gori im Norden entlang einer Linie, die keinen richtigen Namen hat, aber gefährlich werden kann. Staatsgrenze? Okkupationslinie? Die EU bezeichnet sie in umständlicher Amtssprache als administrative Grenzlinie. Weil kaum jemand der Bewohner genau weiß, wo diese Linie verläuft und weil Grenzschilder immer mal wieder einfach versetzt werden, kommt es regelmäßig zu Zwischenfällen: Bauern pflügen versehentlich in Südossetien, im Glauben, ihr Feld im georgisch kontrollierten Teil zu bestellen, erläutert ein Polizist. „Hier sieht nichts nach Grenze aus – und zack, werden die Bauern festgenommen“, sagt er. Weil er und seine Kollegen keinen Einfluss auf die Behörden im Norden haben, könnten sie den Bewohnern nicht helfen.

Sein Ausweg: ein Anruf bei der EU-Mission. Denn Brüssel hat unbewaffnete Kräfte entsandt, die in solchen Fällen vermitteln. Täglich patrouillieren die rund 200 Beobachter durch das gebirgige Gebiet, darunter 11 Deutsche und 7 Österreicher. „Wir haben eine Hotline – Georgien hat keine diplomatischen Beziehungen zu Russland und den abtrünnigen Gebieten. Wenn etwas passiert, kommen wir ins Spiel“, sagt Missionsleiter Erik Høeg. Im vergangenen Jahr wurde die Mission mehr als 1 600-mal von den georgischen Behörden alarmiert, Tendenz steigend. Doch die Beobachter haben keinen Zugang nach Abchasien und Südossetien, obwohl dies im Friedensplan zugesichert wurde. Høeg sieht dennoch Erfolge. „Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Bewohner aufgrund unserer Präsenz sicherer fühlen.“ Spartak Kazaschwili, ein Nachbar von Isolda, sagt: „Ich habe keine Ahnung, was die hier machen.“ Der 44-Jährige spricht leise. Drüben, in der Provinz Achalgori, sei er Bauer gewesen. Er habe mit seiner Familie ein ruhiges, aber gutes Leben geführt. Heute sei davon nichts mehr zu spüren. „Die Ernte hier kann man vergessen. Das Wasser reicht nicht“, sagt er. Die Frauen haben auf der Veranda auf einer Decke Zwiebeln ausgebreitet, viele sind vertrocknet. Zum Verkauf reiche es nicht, um über den Winter zu kommen, vielleicht.

Er wolle den Kindern irgendeine Perspektive bieten, er wisse nur nicht wie. Inzwischen arbeitet Spartak in einem Steinbruch zwei Autostunden entfernt. „Die Arbeit ist hart, aber stabil. Das ist das Wichtigste“, sagt er. Isoldas Nachbar wohnt mit zwei Brüdern, den Schwägerinnen, sechs Kindern und seiner Mutter Olia zusammen. „Von Privatsphäre kann hier keine Rede sein“, findet die 68-Jährige. Sie schwelgt gerne in Erinnerungen an Südossetien, schaut Fotos an, denkt an die Apfelbäume vor dem Haus. „Was sollen diese Sentimentalitäten?“, entgegnet der Sohn. „Ich will wissen: Wo finden wir Arbeit, wie bringen wir die Familie durch?“ Fragen, auf die Spartak keine Antwort weiß.

Manchmal spaziert er mit seiner Familie dann doch auf den nächsten Berg, mit einem besonderen Ziel: Vom Gipfel können sie ihre Heimat sehen. Denn Freseti fühlt sich nicht nach Zuhause an – auch nach zehn Jahren nicht. (dpa)