Merken

Die Wende hinter den gelben Mauern

Im Herbst 1989 kam es nicht nur auf den Straßen zu Protesten, sondern auch im Bautzener Gefängnis.

Teilen
Folgen
© Uwe Soeder

Von Nancy Riegel

Die Wende machte im Jahr 1989 vor nichts halt. Noch nicht einmal vor den gelben Gefängnismauern der JVA Bautzen I. Unruhe herrschte unter den Gefangenen. Sie forderten Amnestie und eine Neubetrachtung ihrer Fälle unter menschenwürdigen Gesichtspunkten. Um ihre Forderungen durchzusetzen, drohten sie mit Gewalt und Selbstmord. Eine Gruppe von Bautzener Christen nahm sich den Sorgen der Gefangenen an.

Anfang Oktober 1989 wird die Justizvollzugsanstalt Bautzen I ihrem Beinamen gerecht. Als „Gelbes Elend“ wird der Backsteinbau bezeichnet. 800 Demonstranten aus Dresden und anderen Städten Sachsens landen nach Protesten in dem Bautzener Gefängnis, das damit restlos überfüllt ist. Sie werden teilweise im Keller untergebracht und von den Wärtern schikaniert. Viele von ihnen werden nach einigen Tagen wieder freigelassen. Doch knapp 100 bleiben in Bautzen. Es sind diese politischen Gefangenen, die zu den Initiatoren der Häftlingsstreiks ab dem 30. November 1989 zählen.

Die darauffolgenden Tage sind turbulent. Ein Großteil der Gefangenen tritt in den Hungerstreik. Selbst die Diabetiker, für die der Verzicht auf Nahrung tödlich sein kann. Die Häftlinge legen ihre Arbeit nieder und verfassen einen Punktekatalog mit ihren Forderungen: Generalamnestie, Gespräche mit der Presse und dem Neuen Forum und eine Änderung des Strafgesetzbuches. Die Anstaltsleitung fühlt sich angesichts der Aufstände machtlos und versucht, die Forderungen weitestgehend zu erfüllen. Sie lässt es sogar zu, dass die Insassen den Vertretern von Fernsehen und Zeitung die Arrestzellen zeigen, die sich im Haus 2 befinden. Bis zu diesem Zeitpunkt weiß kein Außenstehender, wie die dortigen Zustände sind: eng, kalt, dreckig.

Am 6. Dezember schließlich verkündet die Regierung die Freilassung eines großen Teils der politischen Häftlinge. Doch Weihnachten 1989 sitzen noch immer 500 Gefangene in Bautzen. „Die Stimmung unter den Häftlingen war aggressiv und drohte jederzeit zu explodieren.“ Zu dieser Einschätzung kommt Siegfried Herrmann. Der 74-Jährige gehörte zu der Gruppe von Bautzenern, die Anfang 1990 erstmals zu Gefangenengesprächen ins Gelbe Elend geht. Aufgerufen dazu hatte Pfarrer Frieder Wendelin. 25 Christen erklären sich bereit, als Bindeglied zwischen den Gefangenen und den Wärtern zu fungieren. Am Runden Tisch sprechen sie über Haftbedingungen und -erleichterungen.

„Wir waren die einzigen Vertrauten der Gefangenen“, sagt Herrmann. Oft hatten sie mit Männern zu tun, deren politische Gesinnung sie zu Gewalttätern werden ließ. Die beispielsweise Menschen mit einer Waffe bedrohten oder anschossen, um über die Grenze zu fliehen. Trotz der Vorgeschichte der Häftlinge hatte er keine Angst, erzählt Herrmann. Renate Bleyl, die ebenfalls zu der Gesprächsgruppe gehörte, ging es ebenso. Doch erinnert sie sich auch an Situationen, in denen ihr mulmig zumute war. „Die Häftlinge hatten sich Zugang zum Dachboden der JVA verschafft. Sie saßen dort, rauchten und redeten in lautem Gefängnisjargon aufeinander ein. Ich dachte noch in dem Moment: Wenn meine Mutter wüsste, wo ich gerade bin!“

Die Abgesandten der Kirche konnten in Bautzen I durch die Gesprächsrunden vieles erreichen. Die Gefangenen, die für die Wärter bis dahin nur Nummern waren, wurden jetzt mit ihrem Namen angesprochen. Alle Vollzugsbeamten wurden überprüft, genau wie die Urteile der Insassen. Doch war es vor allem die geschenkte Aufmerksamkeit, die die Gefangenen wertschätzten. Die meisten hatten gar keinen Kontakt mehr zur Außenwelt, weil sich Familie und Freunde abgewandt hatten. Plötzlich waren da Menschen, die sich mit ihnen über ihre Sorgen und Nöte unterhielten und sie ernst nahmen.

Auch in den Jahren nach der Wende und den Unruhen im Bautzener Gefängnis blieb Siegfried Herrmann den Gefangenen als Vertrauensperson treu. „Ich hatte schon Häftlinge, die ihren Freigang nutzten, um bei mir zu Hause Mittag zu essen. Oder mit denen ich zum Frisör ging.“ Er weiß, dass ihn manche Menschen für blauäugig halten, weil er sich freiwillig mit Straftätern umgibt. Doch er sagt dazu: „Ich sehe bei den Gefangenen nicht das Urteil, sondern den Menschen dahinter. Sonst wäre ich damals nicht ins Gelbe Elend gegangen.“