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Die Zahl der Heimkinder steigt

Immer mehr Mädchen und Jungen müssen aus ihren Familien geholt werden. Im Kinderdorf-Haus finden sie Halt.

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© Sven Ellger

Von Julia Vollmer und Sarah Herrmann

Zeit für einen Kaffee hat Ulrich Ott eigentlich nur morgens um 10 Uhr. Dann kann er den Tag planen, Einkaufslisten und To-do-Listen schreiben, denn dann sind die Kinder in der Schule. Eine Großfamilie mit acht Personen will schließlich gut organisiert sein. Ulrich Ott ist Kinderdorf-Papa beim Albert-Schweitzer-Kinderdorf. Seine Frau und er haben neben zwei eigenen auch vier aufgenommene Kinder. Denn das ist das Konzept des freien Trägers. Alle leben zusammen in einem Haus, essen zusammen, fahren gemeinsam in den Urlaub – wie eine ganz normale Familie eben. „Unsere sechs Kinder sind alle zwischen 10 und 16 Jahren alt, manche von unseren aufgenommen leben schon seit neun Jahren bei uns im Haus“, erzählt er.

Die Gründe, warum die Kinder nicht mehr bei ihren Eltern leben, sind so individuell wie die Kinder selbst. Mal spielen gesundheitliche oder psychische Probleme eine Rolle, mal Überforderung mit der Elternrolle. Auch Drogenkonsum der Eltern kann ein Grund sein, warum das Jugendamt die Kinder aus den Familien nimmt. „Crystal wird ein immer größeres Problem“, so Ott. Das berichten neben dem Kinderdorf-Papa auch die Stadt und alle anderen freien Träger in der Stadt.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in Dresden in Heimen leben, ist in den letzten Jahren gestiegen. Im April 2018 lebten insgesamt 830 Kinder und Jugendliche in Heimen und Wohngruppen. Dabei wurden 747 Plätze vom Jugendamt Dresden belegt und 83 Plätze von Jugendämtern aus Fremdgemeinden. 2017 waren es im Durchschnitt 755 Kinder, 2010 noch 508, die in Heimen oder Wohngruppen untergebracht waren. Das Jugendamt weist aber darauf hin, dass sich die Zahlen nur auf Dresdner Kinder beziehen. Es leben auch Mädchen und Jungen aus anderen Städten in hiesigen Heimen und Dresdner Kinder in anderen Städten.

Die Stadtverwaltung sieht unter anderem folgende Ursachen für den Zuwachs: steigende Zahlen von alkohol- oder drogenabhängigen Eltern, außerdem würden Kinder und Jugendliche immer häufiger komplexe psychische Störungen und Erkrankungen entwickeln. Auch müssten immer öfter Kinder von psychisch kranken Eltern untergebracht werden.

Die Dresdner Caritas kennt noch mehr Gründe: die Flüchtlingskrise ab 2013 und die damit verbundene große Zahl an unbegleiteten minderjährigen Kindern und Jugendlichen. Derzeit sei die Zahl aber wieder rückläufig. „Außerdem gibt es eine abnehmende Bereitschaft in den familiären Netzwerken, Notsituationen innerhalb der Verwandtschaft aufzufangen“, so Caritas-Sprecher Sebastian Kieslich. Die Caritas betreibt ein Jugendhilfezentrum in Striesen mit insgesamt vier Wohngruppen und eine in Briesnitz mit jeweils acht Plätzen und eine Mutter-/Vater-Kind-Wohngruppe mit neun Plätzen.

Konstant bleiben die Zahlen der Heimkinder bei der Lebenshilfe. Sie ist Träger eines Wohnheims für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen. Darin gibt es insgesamt 36 Plätze für alle Altersgruppen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Diese Plätze gebe es bereits seit vor 2010 und die Belegung und Nachfrage sei konstant, sagt Beate Kursitza-Graf, Geschäftsführerin der Lebenshilfe. Anfragen zu neuen Aufnahmen bekommt der Verein meist von den Sozial- oder Jugendämtern. „Allerdings ist es eine zunehmende Herausforderung, allen jungen Erwachsenen nach Vollendung des 18. Lebensjahres oder nach deren Schulabschluss ein passendes weiteres betreutes Wohnangebot zu vermitteln“, so Kursitza-Graf. Ein neues Angebot schafft der Kinderdorf-Verein in Klotzsche. Nach rund einjähriger Bauzeit wurde das siebte Kinderdorfhaus in Sachsen eingeweiht. Claudia Töppner ist die zukünftige Kinderdorfmutter, die mit ihrer eigenen Familie in das neue Haus einziehen und bis zu sechs Kinder aufnehmen wird.

Bis zum 18. Geburtstag leben auch die meisten Jugendlichen im Kinderdorf von Ulrich Ott. Das Sorgerecht für die Kinder liegt also bei deren Eltern oder bei einem Vormund. Ott und seine Frau besprechen alle Anliegen mit den Sorgeberechtigten ihrer Kinder.

Die Mädchen und Jungen sind regelmäßig bei ihren Eltern zu Besuch. „Das ist wichtig für die Kinder“, so Ott. Damit es auch eine Abgrenzung für seine eigenen beiden Kinder gibt, nennen die aufgenommenen Kindern ihn und seine Frau beim Vornamen und nicht Mama und Papa. Der Alltag in der Kinderdorffamilie unterscheidet sich sonst nicht von anderen. Schule, Hobbys, Hausaufgaben, Einkäufe, Arztbesuche, Therapien – das will alles geplant werden. Deshalb ist die Unterstützung im Haus durch zwei feste pädagogische Mitarbeiter und eine Hauswirtschaftskraft eine wichtige Stütze der Arbeit. „Wir haben das alles mit unseren eigenen Kindern besprochen, bevor wir uns für das Kinderdorf entschieden haben“, sagt der Sozialpädagoge.

Doch auch die Familie braucht mal Urlaub zu viert. In dieser Zeit kümmern sich andere Mitarbeiter um die anderen Jugendlichen. Eine Sache macht Ulrich Ott Sorgen. „Es wird immer schwerer, Personal zu finden“, sagt er. Erzieher und Sozialpädagogen gäbe es kaum noch auf dem Markt.

Hin und wieder geht die ganze Rasselbande mal ganz in Familie und ohne Mitarbeiter in ein Restaurant. Sind das alles ihre Kinder? So lauten dann oft die Fragen. „Na klar“, sagt Ulrich Ott dann.