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Vom Trampelpfad in die Zelle

Die tschechische Grenze beschert dem SZ-Reporter unzählige Geschichten und ein Erlebnis, auf das er gern verzichtet hätte. Ein Beitrag zum Jubiläum 75 Jahre SZ.

Von Egbert Kamprath
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1991 ging es bei Zinnwald noch auf Trampelpfaden über die grüne Grenze ins böhmische Wirtshaus
1991 ging es bei Zinnwald noch auf Trampelpfaden über die grüne Grenze ins böhmische Wirtshaus © Egbert Kamprath

Seit über 30 Jahren bin ich im Osterzgebirge mit der Kamera für die Sächsische Zeitung unterwegs und halte das Geschehen fest, anfangs auf Film, inzwischen seit 20 Jahren digital. Dabei empfinde ich es als ein besonderes Privileg meines Berufs als Pressefotograf, Begebenheiten und Orte des Geschehens hautnah mitzuerleben, so wie es nur wenigen vergönnt ist. Und immer wieder waren es Ereignisse an, mit und hinter der Grenze zum tschechischen Nachbarland, die mich beschäftigten.

Corona hat schmerzlich die Erinnerung an eine Zeit zurückgebracht, die wir als für immer überwunden glaubten. Es war die Zeit der überwachten Grenze, die nur wenige offizielle Durchlässe hatte. Lange Jahre ging es nur über Zinnwald ins Nachbarland, das in der Wendezeit noch als Einheitsstaat Tschechoslowakei existierte. Pass- und Zollkontrollen trafen jeden, der hier herüberwollte. Einfach mal so auf dem kürzesten Weg über die Wiese ins jeweilige Nachbarland zu spazieren, das war lange Zeit undenkbar – zumindest nicht legal.

Am 21. Dezember 2006 rollte erstmals der Verkehr über den neuen Autobahnübergang über die Grenze.
Am 21. Dezember 2006 rollte erstmals der Verkehr über den neuen Autobahnübergang über die Grenze. © Egbert Kamprath

Mir bescherte das im Sommer 1992 meine erste und bislang einzige Verhaftung. Es ging um die Bebilderung eines Artikels über erweiterte Möglichkeiten, die Grenze zu überqueren. Damals war zum Beispiel ein neuer Übergang in Neurehefeld im Gespräch. Ich fuhr nach Böhmen und wanderte auf tschechischer Seite die grüne Grenze entlang. Belustigt entdeckte ich dabei einen Eingeborenen-Trampelpfad, der von Zinnwald-Georgenfeld durch das Gebüsch schnurstracks Richtung Gasthaus Lípa führte.

Symbolisch sägen im Dezember 2007 Altenbergs Bürgermeister Thomas Kirsten und Dubís Stadtoberhaupt Petr Pipal die letzte Grenzschranke durch.
Symbolisch sägen im Dezember 2007 Altenbergs Bürgermeister Thomas Kirsten und Dubís Stadtoberhaupt Petr Pipal die letzte Grenzschranke durch. © Egbert Kamprath

Ich holte die Kamera heraus und hielt die Spuren des kleinen Grenzverkehrs fest. Ging auf der Suche nach dem besten Kamerastandort mal kurz auf die deutsche Seite und wechselte darauf wieder das Land zurück, immer rund um das tschechische Grenzschild. Voll in meine Beschäftigung vertieft, waren mir die beiden Uniformierten nicht aufgefallen, die sich in der Zwischenzeit genähert hatten und meinem Treiben interessiert zuschauten. Das beendeten sie schließlich abrupt mit einem „Dobrý den, Pasport prosím!“

Immer wieder gingen den Grenzbeamten Schleuser, Autodiebe oder Schmuggler ins Netz.
Immer wieder gingen den Grenzbeamten Schleuser, Autodiebe oder Schmuggler ins Netz. © Egbert Kamprath

Wären es Beamte des Bundesgrenzschutzes gewesen, hätte ich die Sache sicher schnell aufklären können. Doch so mündeten die gegenseitigen Verständigungsschwierigkeiten in einer kurzen Fahrt im tschechischen Streifenwagen, die mit dem Einschluss in einem früheren Klassenzimmer der damals schon ausgedienten Schule von Cínovec endete. Fotorucksack und Pass wurden mir abgenommen. Den Presseausweis legte ich noch mit dazu, was mir höchstwahrscheinlich meinen Zwangsaufenthalt deutlich verkürzte.

Ein Blick in den weitgehend leeren Raum zeigte, dass sich hier des Öfteren Bürger zur Klärung eines Sachverhaltes hatten aufhalten müssen. Zum Glück erzählte die schäbige Matratze auf dem Boden nicht, was sie alles so erlebt hatte. Was indes hinter den Kulissen passierte, habe ich nicht erfahren. Nach etwa zwei Stunden ratzte der Schlüssel im Schloss und die tschechischen Grenzbeamten standen wieder vor der Tür. Doch statt einer offiziellen Übergabe am Grenzübergang hieß es nur kurz: „Na shledanou!“ – Auf Wiedersehen!

An der Altenberger Tankstelle stauen sich zur Wendezeit die Trabis. Vor der Grenze war hier die letzte Möglichkeit zum Tanken.
An der Altenberger Tankstelle stauen sich zur Wendezeit die Trabis. Vor der Grenze war hier die letzte Möglichkeit zum Tanken. © Egbert Kamprath

Für mich als Pressefotograf war die Grenze ein Feld breiter Betätigung, die Themen lagen buchstäblich auf der Straße oder bei Flügen im Grenzschutz-Hubschrauber in der Luft. Es gab kaum einen Tag, an dem die Geschehnisse nicht in irgendeiner Form damit verbunden waren. Am Zinnwalder Übergang mussten sie alle durch, die Lkws vom Balkan, die Holländer mit ihren Wohnwagen oder die Ausflügler auf Shoppingtour zu einem der vielen Vietnamesenmärkte.

Die Zeiten haben sich geändert. Deutsche Polizisten können mittlerweile Verdächtige auch über die Grenze hinweg verfolgen. Das erfuhr ein Diebesduo 2010, bei dem nach einer rasanten Verfolgungsjagd nach einem Einbruch in Niederfrauendorf schließlich bei H
Die Zeiten haben sich geändert. Deutsche Polizisten können mittlerweile Verdächtige auch über die Grenze hinweg verfolgen. Das erfuhr ein Diebesduo 2010, bei dem nach einer rasanten Verfolgungsjagd nach einem Einbruch in Niederfrauendorf schließlich bei H © Egbert Kamprath

Vor Inbetriebnahme der Autobahn war diese Straße eine europäische Lebensader, die mitten durch das Osterzgebirge führte. Zu Ferienbeginn zog sich die endlose Schlange der Urlauberautos regelmäßig von Zinnwald nach Altenberg. Bei anderen Leuten wiederum klickten die Handschellen, nachdem ihr Versteck mit Schmuggelzigaretten oder ihr Autodiebstahl aufgeflogen waren. Regelmäßig gab es Alarm für die Feuerwehr, weil Gefahrguttransporte undicht waren. Für mich hieß das natürlich immer wieder Einsatz vor Ort. Meist war es kein Thema, mit der Kamera ganz nah ans Geschehen heranzukommen. Man kannte sich halt mit den Uniformierten seit Langem.

Bis auf den 17. Januar 2006, als plötzlich das komplette Areal um den Zollamtsplatz großflächig abgesperrt wurde. Auch auf der vorbeiführenden B 170 ging es nicht weiter. An jeder Zufahrt stand Bundespolizei und verhinderte die Durchfahrt. Auch für mich war an der Absperrung Schluss. Es halfen weder gutes Zureden noch der Presseausweis. Im Nachhinein hätte ich mich sicher mit einem Hinweis begnügt, warum die Grenze zu ist und wäre vom Sinn der Absperrung überzeugt zurückgefahren. Doch man ließ mich unwissend und weckte damit die Neugier des Reporters erst so richtig. Ich setzte mir also in den Kopf, unbedingt an den Grenzübergang zu kommen.

Im Wohnzimmer einer Altenberger Familie endete die Fahrt dieses Lkw im Jahr 2004.
Im Wohnzimmer einer Altenberger Familie endete die Fahrt dieses Lkw im Jahr 2004. © Egbert Kamprath

An dem Tag herrschte heftiger Schneesturm. Auf freiem Gelände würde mich also niemand anhalten. Ich parkte das Auto hinter dem Grenzsteinhof, schnappte mir die Langlaufskier aus dem Kofferraum und stapfte mit dem Fotorucksack auf dem Rücken los über die Wiesen. Das entgeisterte Gesicht von Jörg Scheeser, der damals als Chef am Übergang Dienst tat, habe ich bis heute nicht vergessen. „Wo kommst du her? Hier ist seit Stunden alles dicht!“, brüllte er mir entgegen. „Auf dem Amtsplatz haben wir ein Problem mit einem Lkw, der Sprengstoff geladen hat“, entfuhr es ihm weiter und ich wusste jetzt endlich Bescheid. Dann kreiselte es bei dem Bundespolizisten weiter. Was macht man mit einem Reporter, der mitten in der Sperrzone steht? „Jetzt bist du einmal da, bleib hier.“

Zu meinem Glück war die Situation zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend abgeklärt und dann doch nicht als ganz so gefährlich eingeschätzt, wie es am Anfang schien. Bei der Kontrolle fiel auf, dass mehrere mit pulverförmigem Sprengstoff beladene Kisten auf der Ladefläche beschädigt waren. Doch nach stundenlanger eingehender Prüfung konnte der Lkw in Begleitung eines Polizeifahrzeuges zurück nach Tschechien zum Umladen fahren. Und ich hatte ein total unspektakuläres Foto von einem Hänger nachts im Schneesturm am menschenleeren Grenzübergang, das erst interessant wird, wenn man die Entstehungsgeschichte kennt.

Überhaupt hat der Winter in all den Jahren mehr Sorgen bereitet als irgendein Sprengstoff. Mit der ersten Schneeflocke konnte man fast schon darauf warten, dass die Schwerlaster ab Waldbärenburg bei ihrer Fahrt hinauf ins Gebirge mit durchdrehenden Reifen den Verkehr zum Erliegen brachten. Doch das waren noch die kleinen Probleme. Richtig dick kam es, wenn die Fahrer die Gewalt über ihre Lkws verloren und die schweren Maschinen in den Kurven der Baukahre auf die Seite legten. Während diese Unfälle auf deutscher Seite trotz großer Sachschäden meist glimpflich endeten, ging es auf tschechischer Seite wesentlich dramatischer zu.

Nicht richtig gesicherte Ladung war oft ein Problem bei Lkw-Kontrollen. Oft gab es Gefahrgutalarm. Hier allerdings eher nicht.
Nicht richtig gesicherte Ladung war oft ein Problem bei Lkw-Kontrollen. Oft gab es Gefahrgutalarm. Hier allerdings eher nicht. © Egbert Kamprath

Mit zu hoher Geschwindigkeit oder wegen defekter Bremsen rasten Lastzüge den Berg hinab. Viele von ihnen waren wegen ihres technischen Zustands gerade in den 1990er-Jahren rollende Zeitbomben. Mehrfach endete so die Fahrt in Häusern, einmal im Freibad von Dubí direkt neben der Straße. Immer wieder gab es Tote und Schwerverletzte. Angesichts der Gefahr entschieden die Tschechen, dass die Lkws künftig nur noch im Konvoi mit Führungsfahrzeug ins Tal rollen durften. Außerdem wurden an der Straße Notspuren gebaut. Das entschärfte schließlich das Problem grundlegend, verlängerte aber gleichzeitig die Fahrtzeiten ein weiteres Mal.

Um schneller vorwärtszukommen, war ich außer im Winter fast nur mit dem Motorrad unterwegs. Der stetig zunehmende Verkehr zeigte immer deutlicher, wie dringend die Autobahn über die Grenze gebraucht wird. Von Anfang an war ich auf der Baustelle unterwegs, fotografierte die ursprüngliche Landschaft bei Breitenau, verfolgte, wie die Trasse langsam Gestalt annahm und war der erste deutsche Pressevertreter, der in Begleitung des tschechischen Bauleiters die komplette Strecke von Ústí bis zur Grenze mit dem Auto fahren konnte.

Gerade ein Jahr war der Autobahnübergang in Breitenau in Betrieb, dann wurden die Kegel beiseite geräumt. Inzwischen ist auch das Dach verschwunden.
Gerade ein Jahr war der Autobahnübergang in Breitenau in Betrieb, dann wurden die Kegel beiseite geräumt. Inzwischen ist auch das Dach verschwunden. © Egbert Kamprath

Das sind solche Momente, in denen der Job so richtig Spaß macht. Monate später war ich natürlich auch dabei, als am 21. Dezember 2006 die Autobahn von der Politik offiziell eröffnet wurde. Nach Reden und dem obligatorischen Durchschneiden des Bandes ging es nach Ústí zur Einweihungsparty in die Eishalle. Am Nachmittag fuhr ich zurück, auf dem Beifahrersitz die SZ-Redakteurin Jana Klameth, die über das Ereignis berichtete. Wir fuhren auf der für den normalen Verkehr noch immer gesperrten Autobahn zurück in Richtung Pirna, wo ich die Kollegin absetzen wollte. Es war gegen 15.30 Uhr und vor der abgesperrten Anschlussstelle Pirna stauten sich schon die Autos. Offiziell sollte die Freigabe erst 18 Uhr erfolgen.

Ich hielt kurz an, um mit den am Fahrbahnrand stehenden Polizisten drei Worte zu wechseln, als just in diesem Moment die Entscheidung fiel, dass die Grenze wegen des Andrangs zwei Stunden früher geöffnet wird. Was macht man in einer solchen Situation, um rechtzeitig vor Ort zu sein? Ich wendete an einer offenen Stelle über dem Grünstreifen und befand mich plötzlich vor der Wagenkolonne, die sich in diesem Moment unter Führung von Polizeifahrzeugen und Begleitautos in Bewegung setzte. Doch wir waren ganz vorn unterwegs. Irgendwann war ich dann der Meinung, dass es etwas vermessen ist, wenn ich als Zivilist ohne Befugnis den Konvoi zur Eröffnung der Autobahn anführe. Ich hatte anfangs auch schon überlegt, ob ich schnell bis zur Grenze vorfahre, um hier auf die Ankommenden zu warten. Das wurde in den Behördenfahrzeugen offensichtlich als ein Problem gesehen, zumindest in den orangen der Straßenverwaltung. Die gaben mehrfach Lichthupe von hinten und zeigten mir später den Vogel im Vorbeifahren. Der Polizei schien es relativ egal zu sein. Die Beamten winkten mir freundlich zu. Vorschriftsmäßig in der Kolonne eingeordnet, kamen wir trotzdem rechtzeitig am Grenzübergang an. Und was das Beste dabei war: Ich stand als einziger Pressefotograf da und hatte das Areal komplett für mich. Meine Berufskollegen, die natürlich auch kommen wollten, hatten sich auf die offiziell verkündete Eröffnungszeit zwei Stunden später eingestellt. Da saß ich schon lange wieder zu Hause in Altenberg und stellte fest, dass auf der alten B 170 plötzlich eine fast schon unheimliche Ruhe herrschte.