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NS-Euthanasie vor Gericht

Eine Ausstellung im Museumshaus Waldheim widmet sich dem Prozess zu den Morden in Pirna-Sonnenstein. Auch ein Waldheimer Arzt war verwickelt.

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Steffen Blech ist Mitglied im Beirat der JVA und Vorsitzender der „Initiative für Demokratie ohne Extremismus Mittelsachsen“.
Steffen Blech ist Mitglied im Beirat der JVA und Vorsitzender der „Initiative für Demokratie ohne Extremismus Mittelsachsen“. © Dietmar Thomas

Waldheim. Im Kabinett des Stadt- und Museumshauses wird ab 28. März auch die Wanderausstellung der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein gezeigt: NS-Euthanasie vor Gericht, so der Titel. 1947 wurde vor dem Landgericht Dresden der größte Prozess in der sowjetischen Besatzungszone gegen Beteiligte an der NS-Euthanasie geführt.

In der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein wurden 1940/41 fast 14.000 behinderte und psychisch kranke Menschen getötet. Auch die Biografie Dr. Gerhard Wischers als Leiter der Waldheimer Heil- und Pflegeanstalt findet darin Erwähnung.

Der Döbelner Anzeiger hat mit Bürgermeister a.D. Steffen Blech, Mitglied im Beirat der JVA und Vorsitzender der „Initiative für Demokratie ohne Extremismus Mittelsachsen“, gesprochen.

Herr Blech, die Ausstellung „NS-Euthanasie vor Gericht“ der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein ist ebenfalls in Waldheim zu sehen. Wie war die Heil- und Pflegeanstalt Waldheim verstrickt?

Die Vernichtung lebensunwerten Lebens wurde im dritten Reich zur Verschleierung über Zwischenstationen organisiert. Die „Heil- und Pflegeanstalt“ Waldheim diente als eine solche. In den Monaten März bis Mai 1940 wurden von verschiedenen psychiatrischen Anstalten insgesamt 498 männliche Patienten über Waldheim nach Brandenburg verlegt und in den Gastod geschickt. Ab Juni 1940 gingen die Krankentransporte nicht mehr von Waldheim nach Brandenburg, sondern nach Pirna Sonnenstein.

Wie viele Patienten kamen bis 1945 in Waldheim um?

Unter Wischers Anleitung wurden etwa 20 bis 30 Patienten mittels aktiver „Sterbehilfe“ getötet. In Anwendung kam dabei eine Mischung von Schlafmittelgabe und allmählichem Verhungern-Lassen. Infolge ihrer herabgesetzten Abwehrkräfte, der schlechten pflegerischen und hygienischen Bedingungen erlagen sie nach einigen Tagen Infektionskrankheiten.

Bei 54 der 1.940 Verstorbenen soll dem ärztlichen Jahresbericht die Todesursache eine Lungenentzündung gewesen sein, in 13 Fällen wird allgemeiner Kräfteverfall mit hochgradiger Abmagerung angegeben. Tatsächlich müssen diese Erscheinungen viel häufiger aufgetreten sein. Vieles deutet auf systematische ärztliche Fälschung hin. Waldheim war keine neutrale Durchgangsstation auf dem Weg in die Tötungsfabrik Sonnenstein, sondern Teil ihres Leidensweges.

Dr. Wischer war zu dieser Zeit Leiter der Anstalt. Was weiß man über ihn?

Dr. med. Gerhard Wischer (1903-1950) war von 1938 bis 1945 der leitende Arzt in der Psychiatrie in Waldheim. Parallel zum alltäglichen Leben führte Wischer ein harmonisches Familienleben. Nach Kriegsende verblieb er noch als Arzt in der Anstalt, da er nach seiner Meinung „nichts Böses“ getan habe.

Im Oktober 1945 wurde er von einem Spezialkommando zur Auffindung von Naziverbrechern verhaftet und 1950 wegen seiner aktiven Beteiligung am NS-Krankenmord zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Hinrichtung erfolgte in einem Keller, wenige Meter neben den Krankenräumen, in denen er jahrelang tätig war.

Wurden alle Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen?

In frühen Nachkriegsprozessen wurden gegen die Verantwortlichen T4 harte Strafen und auch Todesurteile verhängt. „Euthanasie-Prozesse“ in den 1950er Jahren endeten häufig mit geringen Strafen oder Freisprüchen. Viele Prozesse folgten erst spät in den 1970er/1980er Jahren.

Einige wurden wegen der Verhandlungsunfähigkeit der Täter wieder eingestellt oder die Täter erhielten nur geringe Strafen, wurden freigesprochen oder sind nach kurzer Haft begnadigt worden. Von 438 „Euthanasie“-Strafverfahren, die bis 1999 eingeleitet wurden, endeten nur 6,8 Prozent mit rechtskräftigen Urteilen.

Erläutern Sie bitte in diesem Zusammenhang: was war die „Aktion T4“?

Die „Aktion T4“ wurde abgeleitet von der Villa in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, der Zentrale der Sonderverwaltung. So lautete der Tarnname für die systematische Ermordung von mehr als 70.000 Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen. Ein rotes Pluszeichen für töten oder ein blaues Minuszeichen für weiterleben auf dem Meldebogen entschied.

Die Ausgewählten wurden in Zwischenstationen gebracht, was der Verschleierung des eigentlichen Zwecks diente. Von dort brachten Busse die Opfer in sechs Tötungsanstalten. Die Exekutionen fanden gruppenweise statt, durch Vergasung mit Kohlenmonoxid.

Ein Kurierauto brachte die gefälschten Unterlagen und Urnen zum Verschicken zu weit entfernten Poststellen und Anstalten, damit für die Angehörigen die Nachforschungen erschwert würden. Die Landesanstalt Waldheim fungierte als eine Zwischenstation.

Es fragte: Dagmar Doms-Berger

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