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Tödlicher Unfall in Dresden: "Sehr schnell losgefahren"?

Im Prozess um den Tod des sechsjährigen Ali auf der Budapester Straße spielt die Fernsehwerbung eine verwirrende Rolle.

Von Alexander Schneider
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Nach dem Unfall in der Budapester Straße sichert die Polizei Spuren an einem Mercedes.
Nach dem Unfall in der Budapester Straße sichert die Polizei Spuren an einem Mercedes. © Archiv/Roland Halkasch

Dresden.Sonnabends entspannt Rentner Gunther R. gerne mit RTL. Daher weiß er, dass der Sender gegen 20.45 Uhr seinen ersten Werbeblock ausstrahlt. Das nutzt der Mann, um am Balkon eine zu rauchen. Fünf Minuten dauert das etwa, ein alltäglicher Vorgang.

Doch am Abend des 22. August 2020 machte der Rentner eine denkwürdige Beobachtung, als er bei seiner Werbeblock-Zigarette vom sechsten Stock auf die Budapester Straße blickte. In Höhe der Einmündung Hahnebergstraße sah der 65-Jährige eine dunkle Limousine, wohl einen Mercedes, der in der rechten Fahrspur der stadteinwärts führenden Fahrbahnen anhielt. „Das passiert öfter“, sagt der Mann, „wenn Leute ausstiegen“.

An jenem Abend stieg niemand aus. Ein zweites Auto sei dazugekommen. Ein dunkler BMW, der aus der Hahnebergstraße kam oder sogar aus der entgegengesetzten Richtung der Budapester. Er habe sich neben den anderen Pkw gestellt. Dann habe es ein Hup-Signal gegeben und beide Autos seien losgefahren. Rentner R. setzte sich wieder vor den Fernseher. Als er jedoch am nächsten Tag im Internet von dem schweren Unfall in der Budapester Straße las, zählte er vermeintlich eins und eins zusammen – und meldete sich als Zeuge. Der Verdacht: Seine Beobachtung könnte der Beginn der Todesfahrt des Mercedes beziehungsweise des Wettrennens gewesen sein, bei dem im vergangenen Sommer ein sechsjähriger Junge starb.

Jetzt, am Mittwoch, sagt der Rentner am Landgericht Dresden als Zeuge aus. Den Angeklagten, Mohammad F. (32). und Mohamed A. (24), wird in dem Prozess vorgeworfen, sich auf der Budapester Straße ein illegales Autowettrennen geliefert zu haben. Für F. lautet der Vorwurf „mit Todesfolge“, er hat den sechsjährigen Ali A. erfasst, der in Höhe der Haltestelle Schweizer Straße über die Fahrbahnen gerannt war, als die Autos heranrasten.

Der Werbeblock begann später

Es ist jedoch bald klar, dass die Autos, die der Zeuge sah, nichts mit dem tödlichen Unfall zu tun haben konnten. Ein Überwachungsvideo zeigt, wie erst ein heller Nissan Qashqai und dann, weit schneller, Mercedes und BMW an einem Autohandel vorbeifahren. Da die beiden dunklen Autos weit vor dem Unfall den Nissan überholen, können die Angeklagten nach dem Autohandel nicht auch noch gehalten haben, etwa um auf ein Startsignal loszurasen. Berechnungen eines Unfallsachverständigen schließen das aus.

Der 65-jährige Zeuge muss andere Autos gesehen haben, die vor seinem Haus gehalten hatten. Das belegen auch Ermittlungen beim Fernsehsender RTL: Der Werbeblock hatte an jenem Sonnabend um 20.47 Uhr begonnen, nach dem Unfall. Das war am Rande des Prozesses zu erfahren.

Verteidiger Jürgen Saupe kritisiert nun, die Aussage des Rentners habe seinen Mandanten F. in Untersuchungshaft gebracht. Saupe hätte sich auch Ermittlungen zugunsten F.s gewünscht, sagt er – und beantragt daher zum zweiten Mal die Entlassung F.s. Für den Verteidiger habe die Beweisaufnahme klar ergeben, dass es kein Autorennen gegeben habe. Das sieht Oberstaatsanwalt Jens Hertel entschieden anders. Hatten doch etwa die Nissan-Insassen als Zeugen ausgesagt, wie sie von den beiden Autos rechts und mit hohem Tempo überholt worden seien.

Ein zweiter Zeuge, ebenfalls Balkon-Raucher, will sogar einen richtigen Start eines Autorennens gesehen haben. Er hatte von seinem Balkon gesehen, wie die beiden Autos, die aus Richtung Nossener Brücke gekommen seien, nebeneinander vor einer Ampel in der Budapester gehalten hätten, sagt der 30-Jährige. Dann seien die beiden Autos "sehr schnell losgefahren".

Nach dieser Beobachtung sei er mit seinen Hunden hinausgegangen, sei zehn oder 20 Minuten unterwegs gewesen und habe bei der Rückkehr die Polizei vorfahren sehen. In seiner Polizeivernehmung nach dem Unfall hatte er noch mehr berichtet, etwa dass ein Fahrzeug länger an der Ampel gewartet habe, ehe der zweite Pkw hinzugekommen sei. Beide Autos hätten "stark beschleunigt".

Nach dem Abgleich mit dem Video ist auch bei diesem Zeugen sofort klar, dass seine Aussage nicht mit dem Unfall in Einklang zu bringen ist. Sollten seine Wahrnehmungen echt sein, muss der Mann seine Beobachtungen deutlich früher gemacht haben. Verteidiger Mike Sturm, er vertritt den BMW-Fahrer A., hat jedoch einen anderen Verdacht, den er schon zum Prozessauftakt geäußert hatte. Da sprach er von Zeugen, die möglicherweise aufgrund einer rassistischen Gesinnung heraus bewusst gelogen hätten.

Verräterische Chats auf den Handys

Zur Frage, ob es vor dem Unfall ein Autorennen gab, kommt das Gericht mit diesen Zeugen nicht weiter. Die Richter werden diese Frage wohl auch nicht ohne das Gutachten des Unfallsachverständigen klären können. Dessen Aussage ist am 17. März geplant.

Es kommen durch die Vernehmung von Polizisten jedoch noch weitere Details zur Sprache. Ein Polizist etwa berichtet, als er mit seinem Kollegen wenige Minuten nach dem Notruf an der Unfallstelle eintraf, hätten sich dort bereits etwa 50 bis 60 Menschen versammelt. Er hatte bei beiden Fahrern Alkohol- und Drogentests durchgeführt, die alle negativ gewesen seien. Schon vor Ort habe nach Zeugenbefragungen der Verdacht eines illegalen Kfz-Wettrennens im Raum gestanden.

Ein Tuning-Experte der Dresdner Verkehrspolizei berichtet, dass die Autos der Angeklagten aufgemotzt gewesen seien, es habe Veränderungen an Auspuff, Rädern und Motor gegeben. Der BMW noch mehr als der Mercedes, so der 58-Jährige. Viel ermittelt wurde zu diesen Tuning-Dingen offenbar nicht, denn der Polizist hatte nicht einmal einen Schlüssel der Fahrzeuge, um unter die Motorhaube zu sehen. Er habe seine Beobachtungen auf den Außenbereich der Autos beschränken müssen, sagt der Zeuge.

Die Auswertung von Handys der Angeklagten und ihrer beiden Beifahrer ergab, dass die Männer schon stolze Autobesitzer waren. Sie fotografierten und filmten sich gern mit ihren Karossen. Vom Tattag existieren Fotos, die an einer Tankstelle gemacht wurden, die Autos immer im Hintergrund, "so als Statussymbol", sagt ein 25-jähriger Verkehrspolizist. Er fand auf den Handys auch Chatnachrichten, aus denen hervorgeht, dass Zeugen sagen sollen, der BMW sei ganz weit hinten gefahren. Solchen Nachrichten könnten bei der Frage, ob es ein Rennen gab, auch eine Rolle spielen.

Der Prozess wird fortgesetzt.

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