Das Alte Dresden wirkt auf den ersten Blick recht niedlich. Sprossenfenster und Gardinen an den Fenstern der Wohnhäuser. Man sieht ein altertümliches Automobil und Gaslaternen. Aber die idyllische Szene wird jäh gestört. Ein verwischtes Etwas braust vorbei. Den Zug selbst sieht man kaum, nur die mächtige Dampfwolke.

Andreas Krase ist immer wieder fasziniert, wenn er das im Stadtteil Plauen entstandene Foto aus dem Jahr 1911 betrachtet. „Dieses Bild ist für mich ein ganzer Film“, sagt er. „Die moderne Technik in Form dieses Zuges rauscht da durch. Das wirkt fast romantisch, aber auf der anderen Seite ist es erstaunlich, wie brutal die Bahnlinie mitten durch das Wohngebiet verläuft, ohne großen Abstand. Es ist ein Symbol für die Dynamik der werdenden Großstadt.“

Andreas Krase hat das Alte Dresden zwei Jahre lang intensiv erkundet, förmlich durchwandert. Neben seiner Arbeit als Kustos für Fotografie in den Technischen Sammlungen Dresden hat er sich durch Berge von Fotos in Museen und Archiven gearbeitet. Tausende Fotos auf seinen Computerbildschirmen studiert. 250 der Bilder sind nun in seinem Buch über „Dresden in Photographien des 19. Jahrhunderts“ zu sehen, manche davon zum ersten Mal.
Das Alte Dresden steckt voller Überraschungen. Es war nicht nur ein Ort höfischen Glanzes und bürgerlichen Selbstbewussteins. Sondern auch einer, an dem es direkt vor der Stube mächtig rumpeln, stampfen und stinken konnte. „Die schöne Stadt, wie sie uns Gemälde und Postkarten vorführen, gab es so nie, auch vor dem Ersten Weltkrieg nicht“, sagt Andreas Krase.

Die Fotos aus den Jahren zwischen 1850 und 1914 stellen heutige Betrachter vor gewisse Herausforderungen. Der moderne Mensch ist an schreiende Farbigkeit gewöhnt, an Action, an Schnappschüsse in Massen und aus jeder Lebenslage. Die Photographien des 19. Jahrhunderts gleichen jedoch ruhigen Kunstwerken. Die noch junge Technik erforderte eine gute Vorbereitung, lange Belichtungszeiten und möglichst stillstehende Objekte. Aber wenn man sich einlässt darauf und das Buch mit Muße betrachtet, kann man Entdeckungen machen und eine spannende Zeitreise.
Andreas Krase hat dem Bildband eine Art Drehbuch zugrunde gelegt. Der Betrachter bewegt sich zunächst durch die Residenzstadt mit ihren herrschaftlichen Prachtbauten. Die Blickwinkel des venezianischen Malers Canaletto auf Dresden finden sich schon in den frühesten Fotos, nur traben hier gemächlich Pferdebahnen durchs Bild. Viele der Aufnahmen entstanden für touristische Zwecke.

Die Fotografen sind selten bekannt, denn sie signierten ihre Produkte nicht. „Fotos wurden massenhaft vervielfältigt, sie galten als Gebrauchsgegenstände, nicht als Kunst“, erläutert Andreas Krase. Eine Ausnahme war Hermann Krone. Auch vom Fotokünstler August Kotzsch sind Dresden-Aufnahmen zu sehen, darauf beinah ländliche Szenen: der Bögen bildende Fluss, viel Himmel, Häuschen und bewaldete Hänge.
Dennoch, die Brüche und Veränderungen, die die Industrialisierung mit sich brachten, ergriffen die Stadt und spiegelten sich auch in Fotos. Abbildungen von Hinterhöfen oder schwierigen Arbeitssituationen in Fabriken gibt es aus der damaligen Zeit zwar so gut wie nicht. Aber die Stadt verwandelte sich um 1900 machtvoll. Auf der Brühlschen Terrasse dominieren Gebäudereste und Bauzäune. Bauarbeiter posieren mit Hammer in der Hand und zerschlagen mittelalterlich anmutende Häuschen, und im Bildhintergrund erahnt man die Frauenkirche oder die Kreuzkirche.

An vielen Läden hängen Schilder mit der Aufschrift „Wegen Abbruch Ausverkauf!“ Im gesamten Stadtzentrum wurde abgerissen und eingeebnet. Ganze Häuserzüge und schmale Gassen kamen weg, um Straßen zu verbreitern.
„Die Drastik und Schnelligkeit, mit der das geschah, hat mich erstaunt“, meint Andreas Krase. Denn an der Datierung der historischen Abbildungen lässt sich gut verfolgen, mit welchem Tempo neu gebaut wurde.

Viele dieser Fotos entstanden nur, weil das Tiefbauamt der Stadt die Baufortschritte festhalten wollte. Deshalb wurde alles, was abzureißen war, akribisch dokumentiert. Gleichsam als Nebenprodukt offenbaren sich die Veränderungen des Alltags. Statt Pferdewagen dominieren elektrische Straßenbahnen. Die Werbung erobert Häuserfronten.
Auf einer gewaltigen Baustelle entsteht mit dem Neuen Rathaus um 1910 ein trutziges Verwaltungszentrum. Die Südvorstadt ist um 1900 noch eine Ansammlung von leeren Feldern und kleinen Gärten, und am Horizont thront die expandierende Stadt, begierig auf das Bauerwartungsland und Wachstum.

„Es gab einen großen Fortschrittsoptimismus damals“, sagt Andreas Krase. „Aber zeitgleich wuchs auch ein Bewusstsein für Geschichte und Tradition.“ Das Bürgertum organisierte sich in Geschichtsvereinen, aus denen 1891 das Stadtmuseum hervorging. Dessen erster Direktor, Otto Richter, sammelte systematisch Abbildungen von historischen und neuen Bauten.
Die Fotos werfen eine drängende Frage auf: Wenn man sich bei Neubauvorhaben heute auf die Alte Stadt beruft, an was denkt man da genau? Das Alte Dresden wurde mehrfach grundlegend überschrieben. Es ist ein Ort mit vielen Schichten, vielen Gesichtern und wiederholtem Wandel. Andreas Krase hat für seine Recherche auch die Bestände des Stadtplanungsamtes im Stadtarchiv durchforstet. Darunter war eine Fotosammlung aus den 1950er-Jahren, die die Bombenschäden dokumentierte. Zahllose Bilder zeigten zertrümmerte Häuser, verbogene Brücken, Ruinen. Dazwischen lagen dann Fotos aus den Jahrzehnten um 1900, auf denen Menschen mit hohen Hüten und langen Röcken gemütlich durch die Stadt flanieren.

Die Zeitreise berührt immer wieder seltsam. Wie die Abbildung der Gaffer, die 1897 zu Hunderten die brennende Kreuzkirche umstehen. Die frühen Luftbilder, die durch Brieftauben „gemacht“ wurden. Oder das Hochwasserfoto vom 21. Februar 1876: Die Fluten der Elbe umspülen am Terrassenufer ein Wohngebäude, das 1845 nach dem Vorbild venezianischer Stadtpaläste entstanden war. Bei der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg wurde das Venezianische Haus zerstört. Heute befinden sich an dieser Stelle unweit der Carolabrücke ein Busparkplatz und eine Wiese.
Das Buch "Dresden in Photographien des 19. Jahrhunderts" ist im DDV-Lokal Onlineshop erhältlich.