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Dresdens Studi-Theater: "Malst du auch Aktmodelle?"

Deutschlands ältestes Studierendentheater „Die Bühne“ beweist in „Portrait“: Kunst und lesbische Liebe zerreißen auch ein Korsett aus Konventionen. Eine Reportage.

Von Fionn Klose & Connor Endt & Antonio Ziesche & Moritz Schloms & Simon Lehnerer
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Ein gemaltes Portrait von Helene soll sie dem Mann zeigen, den sie nach dem Wunsch ihrer Mutter heiraten soll.
Ein gemaltes Portrait von Helene soll sie dem Mann zeigen, den sie nach dem Wunsch ihrer Mutter heiraten soll. © Clemens Mart/Die Bühne

Strahlende Kugeln legen sich wie monströse Perlen um einen Spiegel, der auch Hollywood sein Antlitz zeigen könnte. Karla spitzt ihre Lippen, mustert hohe Wangen und rotes Haar. Mit-Spielerinnen quetschen sich vorbei. So groß wie Hollywood ist "Die Bühne" im Dresdner Weber-Bau nicht. So alt wie Amerikas Film-Fabrik könnte das Studierenden-Theater werden.

Seit 1956 proben, spielen, inszenieren Studierende auf dieser Bühne Theater. Professionelle Regisseurinnen proben mit Laiendarstellern, die TU Dresden finanziert je eine Stelle für künstlerische Leitung, Technik und Öffentlichkeitsarbeit. Studentenwerk und Kulturamt Dresden bezuschussen.

An diesem Abend erreicht mal wieder eine Probenphase ihren Höhepunkt. Monatelang hat das Ensemble Texte gelernt, Kostüme genäht, Plakate geklebt. Jetzt ist es 19 Uhr; noch eine Stunde bis zur Generalprobe. Stimmengewirr, es riecht nach Bügelwäsche. Jacketts mit Gold-Quasten erinnern an vergangene Stücke, ein umgedrehtes Kreuz wacht über die Garderobe.

Angelika Kauffmann hat den Auftrag, Helene für ihren Bräutigam in spe zu malen. Die weiß vorerst nichts von den Hochzeitsplänen, die ihre Mutter geschmiedet hat.
Angelika Kauffmann hat den Auftrag, Helene für ihren Bräutigam in spe zu malen. Die weiß vorerst nichts von den Hochzeitsplänen, die ihre Mutter geschmiedet hat. © Clemens Mart/Die Bühne

Gerade wie ein Rosenstiel ragt Karlas Kopf empor, rote Strähnen verweben sich zu einem Kranz. Die letzte Kurve schwindet aus der Wirbelsäule, als eine Kollegin das Korsett zuschnürt. Knoten um Knoten wird Karla zu Angelika, der Künstlerin in "Portrait".

Das Stück erzählt die Entstehungsgeschichte eines Gemäldes im 18. Jahrhundert. Als Grundlage dafür dienten der Film "Portrait einer jungen Frau in Flammen" von Céline Sciamma und die Lebensgeschichte von Angelika Kauffmann, die nach ihrer künstlerischen Ausbildung in Italien nach London zog, dort Ruhm und Reichtum fand.

Angelika Kauffmann porträtiert Helene im Auftrag von deren Mutter. Die egozentrische Witze will, dass Helene einen Baron heiratet, damit die Familie in Mailand leben kann. Helene ist dem Baron nie begegnet. Vor der Hochzeit fordert er ein Bild seiner Gattin in spe. Also beauftragt Helenes Mutter die Künstlerin. Rufe, Poltern, Atemstöße hallen durch die "Black Box", den schwarzen Aufführraum mit 60 Plätzen. Aufwärmübungen. Weiße Röcke, so zart wie Blütenblätter, flirren durch die Luft. "HA-HI-HE-HO-HU", rufen Baron, Korsettträgerinnen und Karl der Koch; richten imaginäre Schwerter aufeinander. Ein Reaktions-Spiel.

Angelika (r.) soll Helene (l.) portraitieren, damit ein potenzieller Ehemann weiß, wie sie aussieht.
Angelika (r.) soll Helene (l.) portraitieren, damit ein potenzieller Ehemann weiß, wie sie aussieht. © Clemens Mart/Die Bühne

"Wir simulieren jetzt den Einlass-Stopp!", ruft der Techniker. Alle Zuschauer raus und wieder rein in den dunklen Bühnenraum. Nur ein Notausgangsschild schneidet grasgrün durch die Dunkelheit. Scheinwerfer an, zwei Maler pinseln los. Der Geruch von Acrylfarbe steigt in die Luft.

Maike spielt Helene, die heiraten soll. "Eine junge Frau, die von gesellschaftlichen Konventionen gefesselt, neugierig ist und etwas Aufregendes erleben möchte." Zu Beginn des Stücks ist Helene ahnungslos über die Heiratspläne ihrer Mutter. Dann liest sie deren Tagebuch. Sie holt tief Luft, spannt die Arme an und ballt die Fäuste. Helene schreit. Ihr Schrei verdrängt die Stille aus allen Winkeln der Bühne. Maike lässt Helene zum ersten Mal schreien.

"Die angebrachteste Form des Entsetzens"

Das Stück proben sie seit Monaten, der Schrei ist neu. "Ich habe mit der Regisseurin lange darüber nachgedacht, was die angebrachteste Form des Entsetzens sein könnte." Die Idee kam ihr am Tag der Generalprobe, kaum 24 Stunden vor Premiere. "Ich hoffe, es funktioniert alles. Ich habe schon ein wenig Angst davor."

Als stoisch, ausdruckslos und kühl bezeichnet Maike ihre Rolle. Sie selbst sei eher offen, emotional. "Du musst dich einfach vollkommen in die Rolle reinversetzten. Du musst darüber nachdenken, was diese Person fühlen könnte, wo sie herkommt, wie es ihr gerade geht und was sie erreichen möchte." Wenn sie auf der Bühne Helene verkörpert, verspüre sie Wut auf die Mutter oder Sympathie für die Bediensteten, mit denen Helene ein freundschaftliches Verhältnis pflegt. Auch zur Künstlerin entwickelt Helene ein Verhältnis.

Karl der Koch hat Freude an Albernheit, solange die gestrenge Gräfin backstage verharrt.
Karl der Koch hat Freude an Albernheit, solange die gestrenge Gräfin backstage verharrt. © Clemens Mart/Die Bühne

Helenes Schrei ist verhallt, als Angelika Kaufmann ihre Hand über die weißen Flecken ihrer Leinwand gleiten lässt. Die Stirn legt die Künstlerin auf der Bühne in Falten, begutachtet ihr Werk. Striche kaum größer als Kaulquappen erscheinen auf der Leinwand. Angelikas Augen wandern über den Rand des Gemäldes hinaus, mustern ihr Gegenüber. Verstohlene Blicke. Helene reckt das Kinn nach oben und fragt:

"Malst du auch Aktmodelle?"

"Nur von Frauen."

"Und was sagst du denen, die Dir dann Modell stehen?"

Im Stück "Portrait" malen einige Darsteller:innen live auf der Bühne.
Im Stück "Portrait" malen einige Darsteller:innen live auf der Bühne. © Clemens Mart/Die Bühne

Das Spiel der Frauen elektrisiert den Raum. Angelika wechselt von einem Bein aufs andere. Helene reckt das Kinn noch höher. Genug. Pinsel beiseite. "Ich sage: Gut machst du das." Sie tritt hinter der Leinwand hervor. "Ich sage: Wie elegant Du bist." Zwei weitere Schritte auf Helene zu. Die bleibt ganz still. Angelika fällt auf ihre Knie und haucht: "Und so schön." Helene lehnt sich nach vorne. Tiefer Blickkontakt. Angelika greift Helenes Gesicht mit ihren Händen. Die Spannung, sie entlädt sich in einem Kuss, und einem zweiten.

Maike spielt zum 13. Mal in einem Stück der "Bühne" mit. Neu sei immer etwas. Diesmal der Gesang. Wie alle anderen hat Maike weder Schauspiel noch Gesang professionell gelernt. "Wir springen hier immer wieder ins kalte Wasser." Sie hat noch dazu die Kostüme genäht.

Viele Schauspieler:innen auf der "Bühne" studieren nicht mehr, aber bleiben trotzdem dabei. So wie alle Abgebildeten auf diesem Foto.
Viele Schauspieler:innen auf der "Bühne" studieren nicht mehr, aber bleiben trotzdem dabei. So wie alle Abgebildeten auf diesem Foto. © Clemens Mart/Die Bühne

Der Zwei-Minuten-Baron

Wer nicht mitspielt, hilft oft backstage, und auch auf der Bühne legen nicht alle immer dramatische Hauptrollen-Monologe hin. Im „Portrait“ zeigt sich der ungeliebte Bräutigam besonders kurz.

Eine Dreiviertelstunde vergeht, ehe der Baron auf die Bühne schreitet. Helenes Mutter fleht, klagt an, sinkt dann in sich zusammen. Nach etwa zwei Minuten verlässt der Baron die Bühne und taucht erst eine Stunde später wieder auf, als die Künstlerin Helenes Porträt enthüllt.

Das Stück ist erzählt, die Generalprobe floß reibungslos dahin. Nur eine Übung fehlt noch: Die Applausordnung. Einzelapplaus lehnen die Darstellenden ab, sie verbeugen sich nur zusammen, als Gruppe. „Wir sind ein Ensemble und gehören zusammen. Da verdient niemand mehr oder weniger Applaus als der andere.“ Die „Bühnis“ drängen sich wie Pinguine im Kreis aneinander. „Genießt es“, sagt Maike der Gruppe. „Lebt es, das ist unser Ding!“

Die nächsten Vorführungen von "Portrait": Fr., 3. März 2023, 20.15 Uhr; Sa., 4. März, 20.15 Uhr; So, 5. März, 20.15 Uhr; Tickets: 9 Euro, ermäßigt: 5 Euro; die-buehne.tu-dresden.de/spielplan/portrait/