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Glocken läuten

Wir waren Straßenkinder, ohne Väter – die waren meist noch fern, in Kriegsgefangenschaft –

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und mit Müttern, die zur Arbeit gingen; für viele waren Oma und Opa die Erziehenden. Nach der Schule, wenn die Hausaufgaben und der von Mutter beauftragte Einkauf mit klitzekleinen Lebensmittelkartenabschnitten erledigt waren, waren wir uns selbst überlassen. Die freie Zeit verging mit selbst erdachten Spielen, wie Humpeln, Schmetterlinge fangen, Blasrohrblasen, Grasrupfen für die Ziege der Nachbarjungen ... In der ganzen Straße gab es einen einzigen Tennisball zum Barfuß-Fußballspielen.

Irgendwie fand ich zur evangelischen Jungen Gemeinde, die sich um uns Kriegskinder kümmerte. Plötzlich war ich unter Kindern, die sich nicht prügelten, die nicht stehlen gingen, weil sie immer nur Hunger hatten. Und da war Otto Boin, ein Vikar, der uns sonnabends im Gemeindehaus beim Lesen und Zuhören betreute – ein unscheinbarer, bescheidener, kleiner Mann mit schwarzen Augen und Haaren und einer angenehmen Stimme. Otto las unter anderem in der Vorweihnacht, bei Kerzenschein, aus dem Alten Testament und, von uns stets mit Spannung erwartet, aus dem Buch „Vom Tellerwäscher zum Millionär“.

Die Junge Gemeinde stellte nach dem Krieg auch den Glockenläutedienst. Ihn zu versehen, war eine Ehre und im Winter zudem ein kleines Abenteuer: Vom Küster holte man sich den Kirchenschlüssel und eine brennende Stalllaterne. Dann ging's durch das finstere, große Kirchenschiff in den stockdunklen Kirchturm. Beim Erklimmen der gewendelten Stiege knarrten die Holzstufen mal hier, mal dort, Fledermäuse und Tauben fühlten sich gestört – es „unheimelte“ mächtig! Läuten mussten wir von fünf vor bis um sechs, und wehe, wenn am Schluss die große Glocke noch mal nachgongte, dann war der Küster sauer.

An der großen und der kleinen Glocke hingen Seile zum Ziehen. Sie reichten durch eine Bodenöffnung über zwei Etagen des Turmgestühls. Zum Ende des Läutens mussten wir uns ans Seil der großen Glocke hängen, um sie abzubremsen. Dabei zog es uns hoch und runter über zwei Etagen. Toll war das! Herrlich, im Kirchturm zu fliegen!

Einmal, ich lief zum Läuten durch die finstere Stadt, fand ich einen Zehn-Mark-Schein im Straßenlampenlicht. Ich war überzeugt, dass mir der liebe Gott dieses Geschenk gemacht hatte. Meine Mutter fand dann unterm Weihnachtsbaum einen mehrstöckigen Nähkasten. Dieser Kasten, aus Presspappe und mit rotem Papier bespannt, fiel mir 50 Jahre später bei der Haushaltsauflösung meiner Mutter wieder in die Hände.

Peter Jeschke, Dresden