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Dresden: Ein Mietshaus gegen Einsamkeit

Eine Gruppe von Dresdnern plant in der Friedrichstadt ein völlig neues Wohnprojekt - ohne Anonymität und mit fairen Mieten. Die Chancen stehen gut.

Von Daniel Krüger
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Esther Heinke und Nora Franzke: Hoffnung auf gemeinschaftliche Kindererziehung im Wohnprojekt.
Esther Heinke und Nora Franzke: Hoffnung auf gemeinschaftliche Kindererziehung im Wohnprojekt. © Marion Doering

Dresden. Seit sechs Jahren ist Esther Heinke alleinerziehend. Knapp die Hälfte ihres Einkommens als Projektmanagerin beim Stadtteilverein Johannstadt muss die 36-Jährige monatlich für ihre Miete aufbringen. "Ohne Wohngeld wäre ich aufgeschmissen", sagt sie.

Oft, wenn die Kinder abends schlafen, denke sie sich: "Es wäre toll, jemanden zum Reden zu haben." Wie Heinke geht es vielen Menschen in deutschen Großstädten. Immer höhere Mieten, starker Leistungsdruck, wenig Freizeit.

Immer mehr ältere Menschen und Singles in den Städten

Das erschwert es, andere Menschen zu treffen, soziale Kontakte aufzubauen und neue zu pflegen. Bis zum Jahr 2030, das zeigen verschiedene Studien, wird ein Viertel aller Deutschen alleine leben - insbesondere in den Ballungszentren. In Dresden werden zu diesem Zeitpunkt gleichzeitig deutlich mehr ältere Menschen wohnen als jetzt.

Esther Heinke wollte diesen Zustand irgendwann nicht mehr hinnehmen. Mehrere Jahre lebte sie in einer Familien-WG, probierte verschiedene alternative Wohnformen aus. 2018 dann lernte sie über einen Freund ein vielversprechendes Projekt kennen.

16 Erwachsene und vier Kinder, darunter knapp die Hälfte Studenten, hatten sich ein Jahr zuvor dazu entschlossen, gemeinsam wohnen zu wollen. Nora Franzke war Mitglied der ersten Stunde. "Es ging vor allem darum, zusammenzuleben und auch das Umfeld gemeinsam zu gestalten", erzählt die studierte Wasserwirtschaftlerin.

Nachhaltigkeit steht an erster Stelle: Entwurf des neuen Areals an der Vorwerkstraße für die Bewerbung bei der Stadt Dresden.
Nachhaltigkeit steht an erster Stelle: Entwurf des neuen Areals an der Vorwerkstraße für die Bewerbung bei der Stadt Dresden. © Wohnkultur e.V.

Die Gruppe informierte sich und fand schnell das Mietshäuser-Syndikat. Dabei handelt es sich um eine deutschlandweite Beteiligungsgesellschaft, die 1992 von ehemaligen Hausbesetzern in Freiburg gegründet wurde.

Mittlerweile haben sich dem Syndikat bereits sechs Projekte in Dresden angeschlossen. Das Prinzip ist recht einfach: Eine Gruppe von Menschen schließt sich zu einem Verein zusammen und kauft ein Haus. Dafür gründet der Verein eine GmbH, an der auch das Mietshäuser-Syndikat einen Anteil hält. Das nötige Geld für den Hausbau kommt von Bankkrediten, privaten Darlehen und Fördermitteln.

Zieht jemand aus, verliert er das Stimmrecht

Die Bewohner des Hauses sind gleichzeitig dessen Verwalter und Mieter - einen persönlichen Eigentümer gibt es nicht, der ist die GmbH. Entscheidungen werden nicht danach getroffen, wer wie viel Geld ins Projekt eingebracht hat - sondern ausschließlich gemeinsam und im Konsens. Zieht jemand aus, geht das Stimmrecht an den nachfolgenden Bewohner.

In den meisten Fällen erwirbt die Gruppe ein Objekt, das es bereits gibt - nicht selten packen die neuen Bewohner ordentlich an, weil die Häuser alt und sanierungsbedürftig sind. In Oberpoyritz etwa leben 30 Dresdner seit 2019 auf einem alten Bauernhof, in der Friedrichstadt ist seit 2015 ein Syndikatsprojekt im Betriebsküchengebäude der ehemaligen Reichsbahn ansässig.

Nur wenige Straßen weiter jedoch wollen Nora, Esther und ihre Freunde etwas ganz Neues wagen. Denn das Grundstück in der Vorwerkstraße 24 ist nicht bebaut, seit 1954 schon nicht, seitdem sind die einzigen Mieter zahllose Grünpflanzen. Im November 2019 schrieb die Stadt das kommunale Eigentum zum Verkauf aus - und erwähnte dabei zum ersten Mal auch Projekte aus dem Mietshäuser-Syndikat als mögliche Käufer.

Ein Meilenstein in der Stadtgeschichte

Es ist ein Meilenstein in der Stadtgeschichte, eine erste Reaktion auf die seit Jahren stetig steigenden Mieten, auf die Tatsache, dass es nicht an Investoreninteresse mangelt, wohl aber immer mehr an bezahlbarem Wohnraum.

"Ein Projekt wie unseres sichert den Wohnraum langfristig", sagt Nora Franzke. Das macht eine sogenannte Weiterveräußerungssperre möglich, die es verbietet, das Objekt wieder an Investoren oder einzelne Bewohner zu verkaufen.

Das Grundstück in der Vorwerkstraße 24 sei auch das einzige realistische für die große Gruppe im engeren Stadtgebiet Dresdens gewesen, sagen die Frauen. Doch Visionen gab es schon vorher: Seit der Gründung 2017 treffen sich die Mitglieder des heutigen Vereins "Wohnkultur e.V." regelmäßig, um dort darüber zu sprechen, wie so ein Zusammenleben eigentlich funktionieren könnte.

Dabei sei es wichtig, auf alle Bedürfnisse zu achten, sagt Franzke. Einfach sei das nicht immer, aber lehrreich. "Wir diskutieren so lange, bis alle mit der Entscheidung okay sind."

Neubau statt Wildwuchs: Mitglieder des Vereins vor dem begehrten Grundstück.
Neubau statt Wildwuchs: Mitglieder des Vereins vor dem begehrten Grundstück. © Matthias Rietschel

Mit der Bewerbung um das 1.330 Quadratmeter große städtische Grundstück, die sie im April 2020 abgeben, werden die Pläne dann immer konkreter. Zwei Häuser sollen hier entstehen, ein Fünf- und ein Dreigeschosser.

Insgesamt 13 Wohneinheiten soll die Anlage haben, darunter sieben Sozialwohnungen. Mehrere Gemeinschaftsräume, ein Stadtteilcafé, ein großer Nachbarschaftsgarten und ein Parkhaus für Fahrräder sind außerdem in den Entwürfen zu finden.

Und die Mietpreise? "Die Miete wird solidarisch aufgeteilt", erklärt Nora Franzke. Sie hänge vor allem davon ab, wie viel Förderung das Projekt bekommen wird und wie hoch die monatliche Kreditrate ist, die der Verein abbezahlen muss. Dann könne jeder Bewohner sagen, wieviel Miete er im Stande sei zu zahlen, nur die Gesamtsumme muss zusammenkommen. Erhöhungen des Gewinns wegen aber wird es nie geben, denn das Wohnprojekt verpflichtet sich, nicht kommerziell zu wirtschaften.

"Viele haben Eigentum und sind trotzdem alleine"

Im Haus soll es stattdessen vor allem um Gemeinschaft gehen. Gartenarbeiten im Hof, teilweise geteilte Badezimmer und Küchen, Kinder, die zusammen aufwachsen und begleitet werden. Einen Rückzugsraum soll es aber für jeden Bewohner geben - der Privatsphäre wegen. Schließlich scheitern viele Wohnprojekte auch an Streitigkeiten und unterschiedlichen Vorstellungen im Alltag. Das Zusammensein habe man aber in den letzten drei Jahren gut erprobt - mit Erfolg. "Viele Menschen haben ihr Eigentumsheim und sitzen dann trotzdem alleine da", hat Esther Heinke beobachtet.

Gerade die Corona-Isolation habe die Vision des alternativen Lebens in einem völlig neugebauten und deshalb frei gestalteten Objekt in Dresden noch einmal befeuert. Und die Chancen für die Realisierung des Traums stehen gut.

Zwei Bewerber hatte die Stadt im Oktober ausgewählt, die die Anforderungen, nämlich soziales und nachhaltiges Wohnen, erfüllten, darunter das Wohnkultur-Projekt. Zwischen April und Juni soll die endgültige Entscheidung durch den Bauausschuss fallen.

Ab dem Frühjahr 2022 könnten dann auf der Vorwerkstraße die Bagger rollen. Insgesamt rund 4,2 Millionen würde das Projekt kosten, mit dem die Gruppe auch über den Gartenzaun hinaus etwas bewirken möchte.

"Nur Gemeinschaft bietet soziale Sicherheit. Und die schafft wiederum lebenswerte Städte in der Zukunft", sagt Nora Franzke. Städte, in denen vielleicht weniger Menschen einsam sind.

Informationen zum Projekt Wohnkultur, regelmäßige Updates und Daten für Unterstützer gibt es unter www.wohnkultur.haus.

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