Bosse begeistert mit Gefühlsreise zur Geschmacksgrenze

Dresden. Die vordere Bühnenhälfte ist komplett für den Mann des Abends reserviert. Und diesen Platz nimmt er sich auch – ob tanzend wie ein Derwisch oder als Animateur für seine Fans. Und das, obwohl Axel Bosse ständig zu vermitteln versucht, dass er eben kein Platzhirsch ist, sondern nur Reiseleiter in eine Welt der umfassenden Freude, der unendlichen Party, des ausnahmslosen Positivdenkens.
Und nach der Show am Sonnabend vor 4.000 Fans in der Jungen Garde Dresden ist mal wieder klar: Bosse ist mit seiner Hingabe, seinem vollsten Körpereinsatz und seiner nicht enden wollenden Zuneigung anderen Möchtegern-Hedonisten einen Schritt voraus.
Den eher melancholisch-depressiven Part übernahm im Vorprogramm der engagierte Musikerkollege Enno Bunger. Allein am Keyboard spielte er sich in den Vollrausch, während die besungenen Katastrophen der Welt harmonisch durch die Lüfte flirrten. „Menschenwürde ist kein Konjunktiv“, sagte er und erwähnte auch „die paar Leute in einem komischen Stadion“.
Begnadeter Entertainer als ernst zu nehmender Sänger
Sein Nachfolger Bosse ist da etwas konkreter: „Da hinten spielen die beschissenen Freiwild, das ist so ein Dreck – so schön, dass ihr hier seid.“ In der Bastion des Hedonismus, könnte man ergänzen. Denn von Anfang an lautet Bosses Motto: „Einfach machen, das Leben ist zu kurz.“ Und: „Lasst uns nass machen heute.“ Da werden Erinnerungen an frühere Bosse-Shows im Dresdner Beatpol wach, als der Schweiß von der Stuckdecke tropfte.
Das seitdem noch textfestere und zahlenmäßig merklich größere Publikum lässt sich inzwischen noch bereitwilliger zum Tanzen, Klatschen und Mitsingen bewegen. Lieder wie „Du federst“ und „Die schönste Zeit“ über Bosses „größten Herzbruch ever“ lassen die Menge eskalieren, um in der Sprache des Wahl-Hamburgers zu bleiben. Auch, weil er sich sprachlich wie tänzerisch keine Geschmacksgrenzen setzt. „Ich mache das schon so, seitdem ich 20 bin, da hatte ich so meine vierte Dose am Kopf auf einem Dorffest, aber mir war das dann irgendwann Latte.“

Bosse übt sich mit dem Lied „Das Paradies“ weiterhin in der Überwindung alles Schlechten dieser Welt. „Das ist mein utopisch-feuchter Traum von einer Tip-Top-Gesellschaft.“ Und vor dem Lied „Wartesaal“ pflanzt er einem eine Anekdote von einer sehr speziellen Zugfahrt in den Kopf. Weil Bosse einen betrunkenen Musiker vor dem Rausschmiss bewahrte, hatte er gleich Material, um den Song zu Ende zu schreiben.
Kern seiner beruflichen Eskapaden und Erfolge ist und bleibt aber immer seine Dorfjugend, aus der er gern berichtet: „Wenn jemand stirbt, wird gesoffen, wenn jemand geboren wird, auch. Man findet immer einen Grund, meine Kindheit war voller Kühe, voll trist.“ Aber Bosse wäre nicht Bosse, wenn er nicht noch ein „voll gut“ anfügen würde. Irgendwann läuft man dann bei „Hallo Hometown“ fast real mit ihm die Dorfstraße hoch.
Bosse hat es mal wieder geschafft, alle mitzunehmen, Vergangenes und zugleich den Moment zu feiern. Am Ende stellt man fest, komplett überhört zu haben, dass Axel Bosse eher begnadeter Entertainer als ernst zu nehmender Sänger ist. Man wundert sich – für circa zwei Sekunden.