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In Dresden kehrt jetzt die Mauer zurück

Der Dirigent steht auf einem Wachturm, Zuschauer und Orchester werden geteilt und zwangsplatziert: In Dresden wird auf ungewöhnliche Weise an die Wende 1989 erinnert.

Von Bernd Klempnow
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Der ehemaliger Turm der Führungsstelle oberhalb der alten Grenzmauer und den Kraftfahrzeughöckern. Die Bauwerke gehören heute zum "Grenzdenkmal Hötensleben".
Der ehemaliger Turm der Führungsstelle oberhalb der alten Grenzmauer und den Kraftfahrzeughöckern. Die Bauwerke gehören heute zum "Grenzdenkmal Hötensleben". © dpa/Klaus-Dietmar Gabbert

Schnapsidee oder genial? Mit einem ungewöhnlich inszenierten Konzert wollen die Dresdner Sinfoniker an Mauerfall und Wiedervereinigung vor über 30 Jahren erinnern. Das Ensemble für moderne Musik um Gründer Markus Rindt hat schon viele spektakuläre Projekte realisiert wie 2006 die Hochhaussinfonie mit dem britischen Pop-Duo Pet Shop Boys auf dem mit 240 Metern längsten Plattenbau Europas im Dresdner Zentrum und 2020 das Alphorn-Blasen „Himmel über Prohlis“.

Diesmal planen sie am 3. Oktober im Dresdner Kulturpalast „Drüben. Eine deutsche Zeitreise“, die es in sich hat, sicher für Erstaunen und im Zweifel für Ablehnung sorgt. Denn mitten im Konzertsaal wird eine Mauer errichtet, die Publikum wie Orchester teilt. Der Dirigent Jonathan Stockhammer agiert von einem 1,5 Meter großen Turm, der an einen DDR-Grenzwachturm erinnert. Gebaut hat ihn der Schauspieler Tom Quaas, der gelernter Zimmermann ist und die Zeitreise auch inszeniert.

Viel geehrte etwa als „Manager des Jahres“ wurde Markus Rindt für Projekte der Sinfoniker.
Viel geehrte etwa als „Manager des Jahres“ wurde Markus Rindt für Projekte der Sinfoniker. © ronaldbonss.com

Wir wollen das Publikum Geschichte atmen und hautnah spüren lassen, was es hieß, getrennt zu sein und sich wieder zu begegnen“, sagt Markus Rindt. Gleich beim Einlass wird es ernst: Die Ankommenden werden getrennt. Lose entscheiden, wer „DDR-Bürger“ und wer „Westdeutscher“ ist, die auf der östlichen oder westlichen Seite des Konzertsaals platziert werden. Immerhin: Für Wessis gibt es einen Checkpoint Charlie. Mit andersartiger Beleuchtung soll an die Atmosphäre im dunklen Ostteil und dem hellen, grellen Westteil erinnert werden. Auf zwei Screens projizierte, schnell geschnittene Fernsehbilder und Werbeclips der 60er- bis 80er-Jahre zeigen das Leben, die Träume und Versprechungen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Entsprechend komplettiert eine große Selbstbau-Antenne das Bühnenbild neben dem Ost-Screen. Passend, denn speziell die Dresdner als im „Tal der Ahnungslosen“ wohnend, waren äußerst erfinderisch, wenn es um die Verbesserung des dürftigen West-Fernsehsignals ging.

Ein Alphorn-Quartett der Dresdner Sinfoniker steht mit Gurten gesichert während des Konzerts "Himmel über Prohlis" auf dem Dach eines Hochhaus im Dresdner Stadtteil Prohlis.
Ein Alphorn-Quartett der Dresdner Sinfoniker steht mit Gurten gesichert während des Konzerts "Himmel über Prohlis" auf dem Dach eines Hochhaus im Dresdner Stadtteil Prohlis. © Sebastian Kahnert/dpa

Musikalisch treffen Ost und West zusammen. Rindt spricht von Reminiszenzen großartiger Ost-West-Rock und -Pop-Songs: So trifft Silly auf Lindenberg, nach Gundermann ist Grönemeyer dran. „Alle Texte werden gesprochen, gerufen, hingeworfen und auch gesungen. In der Verfremdung entsteht eine neue Verbindung der Ost- und West-Musik – ein magischer Moment.“

Dann folgt die erste Uraufführung. Der Alphorn-Prohlis-Komponist Markus Lehmann-Horn sagt über seine Auftragskomposition „Utopian Melodies (yelling at me!)“: „Dieses Werk ist in Gedanken an gefallene (oder doch nicht gefallene) Mauern — zwischen uns als Einzelpersonen, innerhalb der deutschen Bevölkerung oder zwischen Nationalstaaten entstanden.“ Daher werde reichlich Tonmaterial aus Hymnen und Liedern zitiert oder als Allusion benutzt. Die Musik soll emotional ergreifend zum Fall der Mauer im Saal führen – musikalisch und ganz real.

Nach der Pause darf jeder auf seinen richtigen Platz laut Eintrittskarte und kann dort die zweite Uraufführung der Britin Charlotte Bray erleben. Die hat in „Landmark“ die Perspektive über die rein deutsche Sicht hinaus geweitet. Bevor Andreas Boyde dann das großartig virtuose Konzert für Klavier und Bläser von Igor Strawinsky interpretiert.

Markus Rindt ist immer angespannt bei seinen Vorhaben. Doch diesmal ist er emotional anders drauf. Denn er wie auch der Ex-Sachse Boyde haben dank der Wende international Karriere gemacht. Ohne diese würde es auch die Sinfoniker nicht geben, so Rindt. Er war zu DDR-Zeiten Musiker der Landesbühnen, ist am 3. Oktober nach Prag geflüchtet, saß in einem der Züge, die am 4. Oktober von Prag kommend durch den von Polizei abgeriegelten Dresdner Hauptbahnhof gen Hof gefahren sind. Entsprechend wichtig sind für ihn diese Tage jeden Oktober. „Es war der Abschied von einer Welt, eine Rückkehr war ungewiss, aber es taten sich ungeahnte Chancen auf.“

Was soll man vom „Drüben“-Projekt halten? Wie kann man sich darauf einstellen? Am besten offen sein. Manche Idee der 1996 gegründeten Sinfoniker klang im Vorfeld absurd, zu ambitioniert. Doch alle, ob provozierend oder Aufsehen erregend, waren eine Bereicherung, machten das Orchester mit Dresden im Namen zu einem der profiliertesten europäischen Klangkörper für zeitgenössische Musik.