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Die Romanautorin Anne Stern entdeckt Spannendes in der Dresdner Geschichte

Die Erzählung weiblichen Lebens wurde zu lange vernachlässigt - die Autorin Anne Stern will das ändern. Dresden von 1841 soll dabei mehr sein als historisches Hintergrundrauschen.

Von Karin Großmann
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Das Schreiben für eine Romanserie, sagt Anne Stern, ist ein bisschen wie Nachhausekommen. Die 41-Jährige, Mutter von drei Kindern, schreibt täglich von 9 bis 15 Uhr.
Das Schreiben für eine Romanserie, sagt Anne Stern, ist ein bisschen wie Nachhausekommen. Die 41-Jährige, Mutter von drei Kindern, schreibt täglich von 9 bis 15 Uhr. © www.loesel-photographie.de

Die Geschichtsschreibung hat weibliches Leben jahrhundertelang vernachlässigt. Auch deshalb stellt Anne Stern Frauen ins Zentrum ihrer Romane: freigeistige Rebellinnen des 20. Jahrhunderts. Vom Selbstpublizieren im Internet gelang der Berliner Autorin der Sprung zu Rowohlt mit Serien wie „Fräulein Gold“ und „Die Frauen vom Karlsplatz“. Soeben erschien der erste Band einer neuen Serie: „Dunkel der Himmel, goldhell die Melodie“. Der Roman spielt 1841 in Dresden, als Gottfried Sempers erstes Opernhaus eröffnet wurde. Hauptfigur ist eine junge Frau, die gegen Konventionen, Eltern und Ehemann aufbegehrt. Elise spielt Geige – wie Anne Stern – und will öffentlich auftreten. Ein Interview mit der Erfolgsautorin.

In Ihren Roman beziehen Sie reale Orte und Personen der Dresdner Geschichte ein. Verstehen Sie heutige Konflikte der Stadt dadurch besser?

Ich komme als Besucherin und kann nur versuchen zu verstehen. Aber ich kann nicht urteilen wie Menschen, die hier leben. Was ich wahrnehme, sind Brüche. Manche reichen weit zurück und sind sicher auch eine Folge der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Allein, dass die Semperoper ein drittes Mal aufgebaut werden musste! Ich weiß noch, wie ich vor Jahren die Ruine der Frauenkirche auf einem wüsten Platz erlebte und mich fragte: Was macht es mit den Bewohnern einer so geschichtsträchtigen Stadt, wenn von der Geschichte so viel verloren ging? Heute empfinde ich das barocke Viertel rund um die Kirche als heilsam. Und es ist viel mehr als nur historische Staffage, wenn meine Figuren dort agieren, an der Elbe, in der ersten Semperoper oder auf dem Altmarkt. Die Orte meiner Romane hängen eng mit dem Innenleben der Figuren zusammen.

Die Oper von Gottfried Semper ist ein Spielort des neuen Romans von Anne Stern.
Die Oper von Gottfried Semper ist ein Spielort des neuen Romans von Anne Stern. © Sven Ellger

Haben Sie ein Gefühl für die Stadt um 1841, für die Geräusche und Gerüche?

Ich kann mir den Lärm der Kutschen auf dem Kopfsteinpflaster vorstellen, ich kann herausfinden, was man gekocht und gegessen hat und wie es auf dem Striezelmarkt roch. Aber ein Gesamtbild werden wir wohl nie erlangen. Von der Mentalität der Menschen können wir nur etwas ahnen. Es ist wohl so, wie es in der Bibel heißt: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild. Die Vergangenheit erscheint uns fern und verhangen. Trotzdem kann ich einen Weg dahin finden.

Wie haben Sie sich Ihrer Hauptfigur Elise angenähert?

Ich habe viele Briefe aus der Zeit gelesen, zum Beispiel von der jungen Clara Schumann. Eine Schilderung aus ihrem Tagebuch habe ich in den Roman übernommen. Weil ihr Vater jeden Kontakt zu Robert Schumann verhindern wollte, durfte sie kein Tintenfässchen besitzen, und so musste sie beim Briefschreiben mit der Feder hin und her eilen zwischen ihrem Zimmer und dem Schreibsekretär des Vaters. In solchen Augenblicken öffnet sich für mich ein Guckloch in die Vergangenheit. Ich kann mich annähern. Aber wir sind alle Kinder unserer Gegenwart.

Suchen Sie Parallelen zur Gegenwart, wenn Sie sich mit einem historischen Stoff befassen?

Da muss man nicht lange suchen. Vieles, was die Menschen damals umtrieb, ist nach wie vor aktuell. Das gilt etwa für die Rolle von Frauen in der Gesellschaft. Ich versuche herauszufinden, welche Handlungsspielräume sie hatten, und vor allem: welche hatten sie nicht? Manche Muster wiederholen sich bis heute. Der Wunsch, klassen- und geschlechterübergreifend Freiheit und Gerechtigkeit zu erfahren, ist längst nicht erfüllt. Die Lebensrealität von Frauen wird immer mein Thema sein.

Die junge Elise in Ihrem Roman will selbstbestimmt leben. Eine Ausnahme in ihrer Zeit?

Elise stammt aus dem gehobenen Bürgertum. Das hat sie ebenso geprägt wie das subversive Künstlertum der Eltern. Beide sind Musiker und leiden darunter, dass sie ihre Lebensträume nicht verwirklichen können. Elise nimmt sich Freiräume, die andere junge Mädchen nicht gewagt hätten. Als sie sich heimlich mit einem armen Jungen aus dem Malsaal der Semperoper trifft, geht sie ein hohes Risiko ein. Sie kennt den Preis, den sie zahlen müsste, wenn sie weiter abkommt vom vorgezeichneten Weg.

Sie erzählen von einer Balletttänzerin mit unehelichem Kind, die verstoßen wird und sich das Leben nimmt. Solche Probleme haben wir nicht mehr.

Natürlich geht es uns besser als den Elises im 19. Jahrhundert und besser als den Frauen in vielen anderen Ländern. Aber auch in Deutschland haben wir noch keine Geschlechtergerechtigkeit. In meiner Generation sind Themen wie Gender Care Gap und Gender Pay Gap sehr aktuell. Die Gleichstellung von Männern und Frauen bei Kindererziehung, Pflege, Hausarbeit und bei der Bezahlung für gleiche Arbeit treibt uns um. Dieses Thema ist eng verknüpft mit dem Kapitalismus. Denn Kapitalismus und Patriarchat sind miteinander gewachsen und verschränkt. Da muss man Antworten finden, die weit über Geschlechtergerechtigkeit hinausgehen. Ich setze große Hoffnungen in die jüngere Generation. Für die ist zum Beispiel das Gendern selbstverständlich.

Sie tun es im Nachwort auch.

Ich versuche es, auch wenn ich es nicht perfekt betreibe. Man muss für sich entscheiden, wie man damit umgeht.

Im Roman benutzen Sie meist die heutige Sprache, mit einigen regionalen Farbtupfern.

Ich schreibe ja für die Leserinnen und Leser von heute. Würde ich versuchen, die Sprache von damals abzubilden, wäre das kaum lesbar. Nur in den Dialogen klingt der Ton vielleicht ein wenig historisierend.

Warum schreiben Sie nicht über den Königshof?

Mich interessiert der Alltag jener, die das Fundament einer Gesellschaft bilden. Dazu passt das Hofleben weniger. Aber im zweiten Band tritt der König auf, er flieht mit seinem Gefolge im Maiaufstand.

Der Aufstand liegt schon in der Luft. Sie beschreiben, wie Handwerker beim Bier auf die Fürsten schimpfen. Zum weiblichen Aufbruch kommt der männliche.

Ja, es war eine Revolution der Männer. Frauen hatten daran fast keinen Anteil, obwohl sie ihn gefordert haben. Die Dienstmagd Pauline Wunderlich, die auf der Barrikade kämpfte, war eine Ausnahme. Interessant finde ich das Miteinander von Bürgerlichen und Arbeitern. Sie versuchen, Allianzen zu schmieden, um die Republik durchzusetzen. Aber als es hart auf hart kommt, ist es mit der vermeintlichen Solidarität der Klassen vorbei. Die in den Kämpfen sterben, sind die Arbeiter. Die Bürgerlichen werden verbannt und zum Teil eingekerkert, Männer wie Richard Wagner, Gottfried Semper, Michail Bakunin.

Treten sie im nächsten Buch auf?

Sicher dürfen sie mal durchs Bild huschen. Aber ich will keine historische Abhandlung liefern. Die Fiktion ist mir beim Schreiben das Wichtigste. Dafür biege ich mir auch mal die Fakten zurecht. Manche Autorinnen und Autoren meinen, man müsse die Wahrheit zeigen. Aber ich glaube, die Wahrheit gibt es nicht. Auch im Geschichtsbuch kommt es darauf an, wer schreibt. Die Perspektive entscheidet.

Anders als im Geschichtsbuch spielen Gefühle im Roman eine wichtige Rolle. Kein Historienroman ohne Lovestory?

Die Liebe ist ja das, was uns menschlich macht, was uns vorantreibt, was uns die schönsten und die schrecklichsten Gefühle beschert! Deshalb gehört sie für mich dazu, und erst recht in einem Roman über die Oper. Was wäre die Oper ohne die großen Liebesdramen! Da würde doch keiner hingehen.

Elise heiratet auf Wunsch der Eltern einen älteren Musikkritiker, wechselseitige Erpressung ist im Spiel. Wird sie trotzdem in einem der nächsten Bände ihren Malsaal-Geliebten kriegen?

Das werde ich natürlich nicht verraten. Aber eines ist klar: Ganz glatt geht es in meinen Geschichten nie.

  • Das Buch: Anne Stern: Dunkel der Himmel, goldhell die Melodie. Rowohlt Polaris, 379 Seiten, 17 Euro
  • Lesungen mit Anne Stern: 24. 5., Pension „Unter den Linden“ Bischofswerda; 25. 5., Buchhandlung „Findus“ Tharandt; 26. 5., Stephanus-Buchhandlung Moritzburg