Iris Wolff war acht Jahre alt, als sie mit ihrer Familie Siebenbürgen verließ. In ihren Romanen hält sie die deutsche Kindheit in Rumänien lebendig mit Pfarrhaus, Dorfplatz, Wollwäscherei und einem Fischverkäufer im Schnee. Der Nebel steht wie geschäumte Milch um die Berge. In einer dünnen Wasserlinie verläuft sich der Horizont. „Jede Generation ist das Gedächtnis der vorangegangenen“, heißt es in ihrem Roman „Die Unschärfe der Welt“. Wenn jemand stirbt, ist der Faden zwar abgeschnitten. Aber er bleibt nicht lose in der Luft hängen. Er wird wieder aufgenommen von den Menschen, die sich an die Verstorbenen erinnern.
Dieser Arbeit geht die 46-jährige Autorin nach. Sie nennt sich eine Geschichtensammlerin auf Lebenszeit. Am Freitagabend wurde sie in Dresden mit dem Chamisso-Preis ausgezeichnet. Er ist mit 5.000 Euro dotiert und gilt einem herausragenden literarischen Werk, das aus migrantischer Erfahrung entsteht. Anders als viele Schriftstellerinnen, die aus Ex-Jugoslawien oder der untergegangenen Sowjetunion nach Deutschland kommen, brauchte Iris Wolff die neue Sprache nicht erst zu lernen.
Das Staunen fest über deutsche Supermärkte
Doch das Fremdsein erlebte sie ähnlich. Den Bruch der Identität. Das Herausgerissensein aus vertrauten Zusammenhängen. Sie hält das Staunen fest über deutsche Supermärkte, das Staunen fest über deutsche Supermärkte, die so groß sind wie Lagerhallen. Notiert, dass viele Familien zwei Autos besitzen. Aber niemand sitzt vor dem Haus. „Heimat ist nicht nur Herkunft, sondern auch Ankunft“, sagt Iris Wolff in ihrer Dankrede. Der Blick zurück sei notwendig und doch stets verbunden mit der Sehnsucht nach Neuem. Von Wurzeln zu sprechen hieße, man müsse bleiben, woher man kam. Sie aber möchte nicht festgelegt werden. Daraus resultiert das, was sie ironisch ihre „Wurzelmetaphernskepsis“ nennt.
Auch Wolfgang Holler, Präsident der Sächsischen Akademie der Künste, sieht in der Emigration nicht nur einen Schicksalsschlag, sondern zugleich eine Chance. Das erklärt er am Beispiel des Bauhauses: Dieser „übersprudelnde Ideenpool“ mit Lehrern und Studenten aus 29 Ländern endete 1933 abrupt – doch die Emigranten nahmen die Ideen mit und verbreiteten sie in Amerika, Israel, der Sowjetunion und anderen Ländern. So kam das Bauhaus in die Welt. Holler fordert dazu auf, die Empathie mit Emigranten zu trainieren, um nicht abzustumpfen. „Opfer, die ihre Heimat verlassen müssen, werden anderswo als Täter angesehen.“
Nach Stolpern neuen Platz gefunden
Iris Wolff erzählt, dass sie nur wenig mitnehmen konnte aus Hermannstadt. Deshalb habe alles einen Wert. Das verstecke sie in ihren Büchern. „Lichtungen“ heißt der Roman, der im Januar erscheint. „Unsere wacklige Welt wird in der Sprache der Autorin ein Ganzes“, sagt der Journalist und Filmregisseur Carsten Hueck in seiner Laudatio. Ihrer Literatur sei die Stille eingeschrieben. Sie habe einen Blick für das Liebenswerte der Menschen, ohne deren Schrulligkeit auszublenden. Hueck nennt Iris Wolff eine moderne Romantikerin, eine Grenzgängerin zwischen Ländern, zwischen Schweigen und Sprechen, Vergangenem und Gegenwärtigem, Tatsachen und Ahnungen. Manches hat sie mit dem Namensgeber des Preises Adelbert von Chamisso gemeinsam.
Wie der Dichter aus Frankreich, der mit 15 nach Deutschland kam, wolle sie „die Furie des Verschwindens“ bewusst machen, sagt der Dresdner Literaturwissenschaftler Walter Schmitz. „Wer auswandert, erfährt, wie etwas plötzlich oder allmählich aus dem Leben verschwindet. Die Rückkehr aber findet alles verwandelt unter dem Gesetz der Zeit.“ Von dieser schmerzhaften Urerfahrung erzählt Iris Wolff.
Der Chamisso-Preis hat nach einigem Stolpern seinen neuen Platz gefunden. Nach dem Rückzug der Bosch-Stiftung, die ihn mehr als 30 Jahre lang bis 2017 vergab, kümmerten sich Dresdner um die Fortsetzung. Zunächst war das Kunstzentrum Hellerau im Namen verankert. Andere Autoren wurden zu einer Chamisso-Poetikdozentur eingeladen. Von nun an halten die Preisträger sinnvollerweise auch die Vorlesungen. Die Akademie der Künste und der von Walter Schmitz gegründete Verein Bildung und Gesellschaft tragen das Projekt gemeinsam mit weiteren Förderern.
Iris Wolff hält am 27. und 29. November, 19 Uhr, in der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden ihre Chamisso-Poetikdozentur.