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Eine Kunstausstellung mitten im Lockdown

Die Dresdner Dreikönigskirche zeigt derzeit Arbeiten der Dresdner Bildhauerin Marion Kahnemann. Sie feiert den Reichtum jüdischer Tradition.

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Marion Kahnemann in ihrem Atelier. Die Dresdner Künstlerin hat derzeit eine Ausstellung, die dem Lockdown trotzt und zu besichtigen ist.
Marion Kahnemann in ihrem Atelier. Die Dresdner Künstlerin hat derzeit eine Ausstellung, die dem Lockdown trotzt und zu besichtigen ist. © momentphoto.de/bonss

Von Uwe Salzbrenner

Marion Kahnemann braucht nicht viel, um einen Menschen darzustellen: Eine runde Form für den Kopf, eine zweite darin für das Auge. Einen viereckigen Leib, in Herzhöhe eventuell versehen mit Gruben oder Schmuck. Eine kräftige Stütze unten, nicht zwingend Beine. Arme gibt es nie. Es ist zuweilen ein Gerät, das da nahe am Körper klemmt. Für ihre Gestalten nutzt sie oft Fundstücke: Gitter und Gemüseraspeln, Leiterbahnen und Spielzeuggleise, Filter, plattgeschlagene Siebe, papierdünnes, verrostetes Metall. Auch Spielbretter für die Untergründe; Schrauben, Ösen, Sägen, Haken für die Details und einen Draht am Kopf für den guten Draht zu Gott.

Jüdische Überlieferungen sind reich. Marion Kahnemann greift sie in ihrer Arbeit „Mentekel (aus der Tschernobylserie)“ von 2011 auf.
Jüdische Überlieferungen sind reich. Marion Kahnemann greift sie in ihrer Arbeit „Mentekel (aus der Tschernobylserie)“ von 2011 auf. © Kahnemann

Der Materialeinsatz hat Vorteile: Zum einen vereinfacht er das Bild. Die Farben dahinter werden stark, oft in den tiefen Klängen von Dunkelrot und Dunkelgrün, Blau und Violett, Blau und Meerblau. Zum anderen hilft es der Künstlerin, dass die Fundstücke für etwas anderes stehen können. Für „Menetekel“ aus dem Tschernobyl-Zyklus zum Beispiel ergeben metallene Beschläge zum Verbinden von Holz im hellen Grün des Untergrundes Gräberfelder. Die kann man ohne Erklärung als solche erkennen. Ebenso die von einer Häuserwand kopierten Erinnerungen ans sowjetische Kinderlied. Man sieht in anderen Bildern für den Jakob aus der Bibel die Himmelsleiter, für Jonas den Wal und für Isaak ein klitzekleines Sägeding, das verletzen kann.

Aus Texten werden Bilder

Die meisten der in der Dreikönigskirche ausgestellten Assemblagen hat Kahnemann – ursprünglich oder zusätzlich – mit Zitaten jüdischer Literatur versehen. Die 60-jährige Dresdnerin, mit Bildhauerei-Diplom der hiesigen Hochschule für Bildende Künste, arbeitet seit Jahrzehnten mit Überlieferung und Geschichte ihrer Vorfahren. In ihre Bilder übernimmt sie biblische und rabbinische Texte, zuletzt auch Lyrik und Prosa von Else Lasker-Schüler, Peter Weiss und Yehuda Amichai. Und sie unternimmt Studienreisen: 1995 ist Kahnemann mit einem Stipendium der New Yorker Memorial Foundation of Jewish Culture nach Israel gefahren, 2010 auf Einladung der Union jüdischer Studenten in die Ukraine.

Kunstwerk von Marion Kahnemann in der aktuellen Dresdner Ausstellung.
Kunstwerk von Marion Kahnemann in der aktuellen Dresdner Ausstellung. © Kahnemann

Souverän verwendet Kahnemann, was sie zitiert, ebenfalls als Formelement: Die Worte laufen im Viereck innerhalb der Bildkante, sie ordnen das Bild im Gitter, gehen im Kreis. Sie umnähen die Figur oder nähen sich eine eigene. Die Schrift ist klar, doch winzig. Vom Bildgrund brennen hier und da hebräische Buchstaben herauf. So als wäre nicht allein der hier aufgeschriebene Text wichtig, sondern der Dialog, die Überlagerung des Textes mit anderen Dingen im Bild, auch mit der eigenen Erscheinung.

Kahnemann schätzt diese Mehrstimmigkeit, die Meinungsvielfalt der jüdischen Überlieferung: Sie ist kein gesicherter und für alle Zeiten festgelegter Kanon, sie lebt von der Auslegung, der Aktualisierung. Mit jedem Kommentar wird sie reicher, auch mit jeder Übersetzung. Wenn Kahnemann jetzt ihre „Transmission“ vom Text ins Bild vorzeigt oder von der Figur zum Text, ist dieser Reichtum zu sehen. Die Auswahl ist ein Beitrag zum Festjahr 2021 anlässlich 1.700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland.

Ein religiös-besinnliches Angebot

Ebenso vorbildlich für die fällige Öffnung der Museen – falls die es sich leisten wollen und können – ist der pandemiegerechte Umgang mit dem Besucherverkehr in der Kirche: Ausreichend Flächen zum Ausweichen im Foyer, das Personal hat alles in Sichtweite, es besteht Maskenpflicht, die Besucherzahl ist stark begrenzt. Es dürfen maximal vier Besucher gleichzeitig in den Raum, den die Kirche als Ort der Andacht deklariert, als religiös-besinnliches Angebot. Der Eintritt ist frei, nicht zu vergessen.

Die Arbeiten von Marion Kahnemann sind bis zum 30. März in der Dreikönigskirche Dresden, Hauptstraße 23, zu sehen. Geöffnet ist montags bis freitags von 11 bis 15 Uhr.